Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
I.

„Die Summe der Teile ist nicht das Ganze: Zernichte ursprünglichen
Willens Kraft, und nicht wird erstehen Edelsteins klare geregelte Form, doch
unförmlicher Kiesel." Laotse in seinem 39. Spruche.

In Art der Maulwürfe durchfurchen wir das Erdreich nach zerschlagenen
Schäden und werfen, um bei dem Bilde zu bleiben, viel Schutt und Geröll
auf. Blind sind wir und erkennen den Splitter des Edelsteins nicht. Oder
wir wissen ihn nicht neu zu schleifen und kostbar zu fassen, daß ein Abglanz
des alten Gliljerns und Prangens in Lichtern und Farben unsere staubige
Studierluft für Augenblicke erleuchtet. Wir wühlen weiter. Die Museen und
Lagerräume füllen sich. Unübersehbar. Zeitschriften füllen sich. Unlesbar. Bücher
gebären durch primitive Zeugungsformen der Spaltung und des Knospens
wieder Bücher. Kein Vernünftiger liest sie ganz. Er klaubt sich den roten
Heller, der mit einer Miene gespendet wird, als seien Goldstücke verteilt, auf
und geht weiter. Unbefriedigt. Das, worauf es ankommt, hat er nicht erfahren.
Das viele Sehen, das viele Lesen haben ihn nicht weitsichtiger, nicht klüger
gemacht. Winckelmanns und Lessings göttliche Naivität dünkt ihm schließlich
fruchtbarer als unsere ganze Polyhistorie!

Künstlerische Synthese! Sie fehlt uns. Aus einem Stück den Geist einer
Epoche herauszuholen — nicht wie er war, nur wie er uns scheint — wird
zur Unmöglichkeit. Erstickt in dem Wust von Material, das man kennen muß,
worüber man unterrichtet sein muß, bleibt nur die eine qualvolle Frage: wird
der kommende Tag wieder Material bringen? —

Fände nicht einer die Kraft? O, zu schwer, den Staub von Generationen
abzuschütteln, den Generationen auf uns geladen. Noch ist die Zeit nicht da.
Eine Weile noch fahren wir auf dem alten Geleise weiter. So lange, bis ein
gewaltiger Impuls kommt, der dem Abendlande von innen heraus neuen
Sauerteig zufuhrt. Eine religiöse Bewegung, das fühlen wir, muß es sein.
Eine, die die Menschen niederzwingt und ihnen jenes Stammeln in den Mund
legt, das allein zur Kunst führt und Kunst schafft. Dann haben wir den neuen
Stil: Kunst ohne geschichtlichen Beigeschmack. Nicht erdacht, nicht ersessen.
Geboren aus einem neuen herrlichen Gefühl, das die heterogensten Elemente
zusammenschweißt in eine große Einheit. Kunst als Ausdruck einer alles
umfassenden Idee.

Nur selten werden wir uns dann nach den alten Kunstwerken umschauen,
denn des Neuen, was wir lieben, ist übergenug. Wir werden das Alte — von
welchem Volke es herrühren mag — zwar werten als etwas Ebenbürtiges,
soweit es einer hohen inneren Kultur erwachsen, aber nur das Neue wird uns

Boßert, Altkreta 1
 
Annotationen