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Schritt und Tritt begleitet und meist so eng mit ihnen verwachsen ist, daß ein
unzertrennbarer Organismus zustande kommt, hat in der kretisch-mykenischen
Kunst keine Bedeutung gehabt. Nirgends sind Gebäude mit Inschriften ver-
sehen; auch die Bildwerke und Fresken entbehren einer erklärenden Beschriftung.
Selbst die Siegelsteine lassen in der Ubergroßen Mehrzahl nur bildliche Motive
gewahren. Die Darstellungen wollen keine Ereignisse überliefern, sie sind
lediglich Ausdruck innern Erlebens. Vielleicht war die kretisch -mykenische
Kultur nicht alt genug, um historisch denken und fühlen zu können. Oder
besser gesagt: sie alterte zu wenig, als daß eine Änderung in dieser Hinsicht
hätte eintreten können. Wie ein ewig junger Knabe spielt sie in einem Zauber-
garten mit seltenen Blumen und denkt nicht ans Welken und Sterben. Nur
steter Wechsel der Ereignisse und Zustände schärft den Blick für Werden und
Vergehen und regt zur Ergründung der mannigfachen Bedingtheiten an. Die
Geschichte Altkretas kann nicht reich an äußeren Begebnissen gewesen sein.
Ein Tag mag sich freundlich an den anderen gereiht haben zu einer köstlichen Kette.
Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich auch in jener Periode, die
man fälschlich als die des kretischen Naturalismus zu bezeichnen pflegt. Dieses
Wort hat in der Tat nur so viel Zutreffendes, als man damit andeuten möchte,
daß auf jener Stilstufe die größte Naturnähe erreicht wurde, der diese Kunst
Uberhaupt fähig war. Voraussetzung zu jedem Naturalismus bildet ein ge-
steigertes Selbstbewußtsein. Dafür, daß individualistische Strömungen sich in
Kreta hätten stärker entwickeln können als in einem anderen Lande damaliger
Zeit, fehlen alle Anzeichen und Bedingungen. Im Gegenteil, gerade das gering-
entwickelte historische Empfinden läßt auf ein unkompliziertes Denken und
Fühlen schließen und rückt den sog. kretischen Naturalismus weit ab von Er-
scheinungen, die diesen Namen verdienen.
X.
Es liegt uns fern, die Entwicklung der kretisch-mykenischen Kunst, wie
sie sich geschichtlich vollzogen haben könnte, aufzeigen zu wollen. Im ein-
zelnen wäre dazu auch niemand imstande. Daß ganz allmählich aus primi-
tiven geometrischen Anfängen ein lebenswarmer Stil erwuchs, um endlich in
ebendenselben geometrischen Ausklängen zu versinken, sagen, unsere Abbil-
dungen. Bemerkenswert bleibt immerhin, daß Tiere und Blumen in der kretisch-
mykenischen Kunst weit lebendiger erfaßt sind als die Menschen. Der gleiche
Umstand ist in der Kunst der europäischen Steinzeit zu beobachten. Eine Er-
klärung mag man da wie dort in der intensiven Beschäftigung mit Pflanzenver-
edlung und Tierzucht finden, die zu besonders scharfer Beobachtung drängten.
Andererseits machte das mangelnde Bedürfnis für lebensgroße Götterbilder
im Kulte ein Sichversenken in die Struktur des menschlichen Körpers unnötig,
da der Kunst nur religiöse Aufgaben gestellt waren.
Wie in allen Kunstsfilen jener Zeit bleibt das Typische im Vordergrund
und läßt die der Natur abgelauschten Einzelzüge mehr als ein Beiwerk der
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Schritt und Tritt begleitet und meist so eng mit ihnen verwachsen ist, daß ein
unzertrennbarer Organismus zustande kommt, hat in der kretisch-mykenischen
Kunst keine Bedeutung gehabt. Nirgends sind Gebäude mit Inschriften ver-
sehen; auch die Bildwerke und Fresken entbehren einer erklärenden Beschriftung.
Selbst die Siegelsteine lassen in der Ubergroßen Mehrzahl nur bildliche Motive
gewahren. Die Darstellungen wollen keine Ereignisse überliefern, sie sind
lediglich Ausdruck innern Erlebens. Vielleicht war die kretisch -mykenische
Kultur nicht alt genug, um historisch denken und fühlen zu können. Oder
besser gesagt: sie alterte zu wenig, als daß eine Änderung in dieser Hinsicht
hätte eintreten können. Wie ein ewig junger Knabe spielt sie in einem Zauber-
garten mit seltenen Blumen und denkt nicht ans Welken und Sterben. Nur
steter Wechsel der Ereignisse und Zustände schärft den Blick für Werden und
Vergehen und regt zur Ergründung der mannigfachen Bedingtheiten an. Die
Geschichte Altkretas kann nicht reich an äußeren Begebnissen gewesen sein.
Ein Tag mag sich freundlich an den anderen gereiht haben zu einer köstlichen Kette.
Dieser Mangel an historischem Sinn zeigt sich auch in jener Periode, die
man fälschlich als die des kretischen Naturalismus zu bezeichnen pflegt. Dieses
Wort hat in der Tat nur so viel Zutreffendes, als man damit andeuten möchte,
daß auf jener Stilstufe die größte Naturnähe erreicht wurde, der diese Kunst
Uberhaupt fähig war. Voraussetzung zu jedem Naturalismus bildet ein ge-
steigertes Selbstbewußtsein. Dafür, daß individualistische Strömungen sich in
Kreta hätten stärker entwickeln können als in einem anderen Lande damaliger
Zeit, fehlen alle Anzeichen und Bedingungen. Im Gegenteil, gerade das gering-
entwickelte historische Empfinden läßt auf ein unkompliziertes Denken und
Fühlen schließen und rückt den sog. kretischen Naturalismus weit ab von Er-
scheinungen, die diesen Namen verdienen.
X.
Es liegt uns fern, die Entwicklung der kretisch-mykenischen Kunst, wie
sie sich geschichtlich vollzogen haben könnte, aufzeigen zu wollen. Im ein-
zelnen wäre dazu auch niemand imstande. Daß ganz allmählich aus primi-
tiven geometrischen Anfängen ein lebenswarmer Stil erwuchs, um endlich in
ebendenselben geometrischen Ausklängen zu versinken, sagen, unsere Abbil-
dungen. Bemerkenswert bleibt immerhin, daß Tiere und Blumen in der kretisch-
mykenischen Kunst weit lebendiger erfaßt sind als die Menschen. Der gleiche
Umstand ist in der Kunst der europäischen Steinzeit zu beobachten. Eine Er-
klärung mag man da wie dort in der intensiven Beschäftigung mit Pflanzenver-
edlung und Tierzucht finden, die zu besonders scharfer Beobachtung drängten.
Andererseits machte das mangelnde Bedürfnis für lebensgroße Götterbilder
im Kulte ein Sichversenken in die Struktur des menschlichen Körpers unnötig,
da der Kunst nur religiöse Aufgaben gestellt waren.
Wie in allen Kunstsfilen jener Zeit bleibt das Typische im Vordergrund
und läßt die der Natur abgelauschten Einzelzüge mehr als ein Beiwerk der
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