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Was für ein starker Geist muß das gewesen sein, in dessen Werken sich die
Qualen des täglichen Lebens so gar nicht Widerspiegeln. Die Ängste, die Michel-
angelo ansstand, als er in der Sixtina malte, sieht man seinen Sibyllen und
Propheten nicht an. Als die Kapelle vollendet war, durfte das römische Volk
eintreten und bewundern. Der Eindruck, den die Fresken ausübten, war wider
Erwarten der Feinde ein gewaltiger. Vier Jahre halten genügt, um die Bilder
zu vollenden; gewiß eine kurze Zeit, die zu ihrer Größe in keinem Verhältnis
steht. Am 1. November 1512, am Tage Aller-Heiligen, wurde die Kapelle
ciilgeweiht.
Geben wir uns fetzt Rechenschaft über den Inhalt der Fresken. Mannig-
faltiger Art, überragen sie die Werke der Quattrocentisten unter ihnen weit.
Es giebt keinen Maßstab für sie, und beim ersten Anblick ist es uns, als ob
wir den Kompaß verlieren. Wir werden von der Großartigkeit der Propheten
und Sibyllen überwältigt. Göthe, der auf seiner italienischen Reise mit Tisch-
bein zusammen die Sixtina besuchte, bemerkt: „Die innere Sicherheit uud
Männlichkeit des Meisters, seine Großheit, geht über allen Ausdruck. Ich
konnte nur sehen uud anstauuen. Ich bin in dein Augenblick so für Michelangelo
eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch
nicht mit so großen Augen wie er sehen kann. Ohne die Sixtinische Kapelle ge-
sehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein
Mensch vermag. Man hört und liest von viel großen nud braven Leuten, aber
hier hat man es noch ganz lebendig über dem Haupte, vor den Augen."
Es giebt nicht leicht ein schmuckloseres architektonisches Interieur als die
Sixtinische Kapelle, die, fünfzig Fuß breit, hundert und sechzig Fuß lang und
sechzig Fuß hoch, als Bauwerk den Vergleich z. B. mit dem Juwel gotischer Baukunst,
der Saiute Chapelle in Paris, nicht entfernt aushält. Die Sixtina ist nicht durch
den Architekten Baccio Pontelli berühmt geworden, sondern durch die Maler des
Quattro uud Cinquecento. Als Michelangelo an die Ausmalung der Decke ging,
die ein einfaches Spiegelgewölbe bildet, teilte er sich dieses zunächst in architekto-
nisch profilierte Felder ein. Er schuf eine Scheinarchitektur, die würdig war,
die Geschöpfe seiner Phantasie zu umrahmen. Was in den Feldern darzustellen
sei, stand von vorn herein bei ihm fest; denn es mußte sich auf die von den
Quattrocentisten gemalten Scenen aus dem Leben Mose und Jesu beziehen, in
denen das alte Testament, also die Verheißung, dem nenen Testament, der Er-
füllung gegenübergestellt worden war. Wohl hatte Michelangelo völlig freie Hand
nnd durfte malen in der Sixtina, was ihm beliebte, im Gegensatz zu seiuen
Kollegen, die sich gewöhnlich an bestimmte Programme halten mußten, zum Miß-
brauch und zur Willkür hat ihn die vom Papst eingeräumte Selbständigkeit aber
nicht verleitet. War Lorenzo Ghiberti im Florentiner Baptisterium von dem
Kanzler Leonardo Bruni, Perugino im Cambio von dem Universitätsprofessor
Maturanzio, Raffael in der Camera della Segnatura von dem Dichter Ariost ab-
hängig, so bestimmte Michelangelo die Selbstzucht seines Geistes, anzuknüpfen an
die Historien des alten und neuen Bundes, die seine Vorgänger bereits gemalt
hatten. Er begann mit lebensgroßen Figuren, machte sich jedoch, als er sie von
Was für ein starker Geist muß das gewesen sein, in dessen Werken sich die
Qualen des täglichen Lebens so gar nicht Widerspiegeln. Die Ängste, die Michel-
angelo ansstand, als er in der Sixtina malte, sieht man seinen Sibyllen und
Propheten nicht an. Als die Kapelle vollendet war, durfte das römische Volk
eintreten und bewundern. Der Eindruck, den die Fresken ausübten, war wider
Erwarten der Feinde ein gewaltiger. Vier Jahre halten genügt, um die Bilder
zu vollenden; gewiß eine kurze Zeit, die zu ihrer Größe in keinem Verhältnis
steht. Am 1. November 1512, am Tage Aller-Heiligen, wurde die Kapelle
ciilgeweiht.
Geben wir uns fetzt Rechenschaft über den Inhalt der Fresken. Mannig-
faltiger Art, überragen sie die Werke der Quattrocentisten unter ihnen weit.
Es giebt keinen Maßstab für sie, und beim ersten Anblick ist es uns, als ob
wir den Kompaß verlieren. Wir werden von der Großartigkeit der Propheten
und Sibyllen überwältigt. Göthe, der auf seiner italienischen Reise mit Tisch-
bein zusammen die Sixtina besuchte, bemerkt: „Die innere Sicherheit uud
Männlichkeit des Meisters, seine Großheit, geht über allen Ausdruck. Ich
konnte nur sehen uud anstauuen. Ich bin in dein Augenblick so für Michelangelo
eingenommen, daß mir nicht einmal die Natur auf ihn schmeckt, da ich sie doch
nicht mit so großen Augen wie er sehen kann. Ohne die Sixtinische Kapelle ge-
sehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein
Mensch vermag. Man hört und liest von viel großen nud braven Leuten, aber
hier hat man es noch ganz lebendig über dem Haupte, vor den Augen."
Es giebt nicht leicht ein schmuckloseres architektonisches Interieur als die
Sixtinische Kapelle, die, fünfzig Fuß breit, hundert und sechzig Fuß lang und
sechzig Fuß hoch, als Bauwerk den Vergleich z. B. mit dem Juwel gotischer Baukunst,
der Saiute Chapelle in Paris, nicht entfernt aushält. Die Sixtina ist nicht durch
den Architekten Baccio Pontelli berühmt geworden, sondern durch die Maler des
Quattro uud Cinquecento. Als Michelangelo an die Ausmalung der Decke ging,
die ein einfaches Spiegelgewölbe bildet, teilte er sich dieses zunächst in architekto-
nisch profilierte Felder ein. Er schuf eine Scheinarchitektur, die würdig war,
die Geschöpfe seiner Phantasie zu umrahmen. Was in den Feldern darzustellen
sei, stand von vorn herein bei ihm fest; denn es mußte sich auf die von den
Quattrocentisten gemalten Scenen aus dem Leben Mose und Jesu beziehen, in
denen das alte Testament, also die Verheißung, dem nenen Testament, der Er-
füllung gegenübergestellt worden war. Wohl hatte Michelangelo völlig freie Hand
nnd durfte malen in der Sixtina, was ihm beliebte, im Gegensatz zu seiuen
Kollegen, die sich gewöhnlich an bestimmte Programme halten mußten, zum Miß-
brauch und zur Willkür hat ihn die vom Papst eingeräumte Selbständigkeit aber
nicht verleitet. War Lorenzo Ghiberti im Florentiner Baptisterium von dem
Kanzler Leonardo Bruni, Perugino im Cambio von dem Universitätsprofessor
Maturanzio, Raffael in der Camera della Segnatura von dem Dichter Ariost ab-
hängig, so bestimmte Michelangelo die Selbstzucht seines Geistes, anzuknüpfen an
die Historien des alten und neuen Bundes, die seine Vorgänger bereits gemalt
hatten. Er begann mit lebensgroßen Figuren, machte sich jedoch, als er sie von