Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
162

sei aufmerksam gemacht, daß sie durch bestimmte Bibelstellen inspiriert wurden.
Nehmen wir z. B. Jesaias und Jeremias. Jener hat das Buch, in dem er ge-
lesen, soeben zugeschlagen. Ein Geräusch tönt an sein Ohr. Der Knabe hinter
ihm weist aus dasselbe hin. Jesaias aber ist ganz Gehör, was auch die Be-
wegung seiner linken Hand andeutet. „Seraphim standen über ihm, heißt es im
sechsten Kapitel des Propheten Jesaias, und einer rief zum andern und sprach:
Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll."
Dumpf vor sich hinbrütend sitzt Jeremias da, das Bild der grenzenlosesten Trost-
losigkeit, als wollte er klagen über seines Volkes Sünden. „Ach, daß ich Wasser
genug hätte," lesen wir im neunten Kapitel Jeremia, „und meine Augen Thränen-
quellen wären, daß ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen in
meinem Volk."
Eine dritte Kategorie von Darstellungen enthalten die Bogenfelder und die
Stichkappen. Fälschlich die „Vorfahren Christi" genannt, haben diese Kompo-
sitionen, wie wir gleich sehen werden, mit den auf Tafeln über den Fenstern
verzeichnet stehenden Namen der Vorfahren Jesu in Wirklichkeit nichts zu thun.
Endlich greifen selbständig in den Gedankengang der Malereien ein die Bilder
der Zwickelfelder der vier Ecken, in denen David und Goliath, Judith und
Holofernes, Haman und Esther und die Geschichte von der ehernen Schlange zur
Anschauung gebracht wird.
Wir übersehen nun das Ganze und erkennen deutlich die Absichten des
Meisters. Zunächst schildert Michelangelo die Schöpfungsgeschichte mit Gott-
vater als Hauptfigur. Er ist das A und das O. Sodann behandelt er die
Geschichte vom ersten Menschenpaare. Gott tritt etwas zurück, das Hauptinteresse
flößen jetzt Adam und Eva ein, durch die die Sünde in die Welt kommt. In
den letzten Feldern, den figurenreichsten der Decke, tritt Noah aus als Erneuerer
des Menschengeschlechts. Die Menschheit trägt die Folgen der Sünde, die un-
geschehen zu machen unmöglich ist. Es bedarf hiezu der erlösenden That Christi.
Das Paradies hat die Menschheit verscherzt; den Schlüssel, es ihr wieder aufzu-
schließen, bringt Jesus mit, der eingeborene Sohn Gottes, den die Propheten
weissagen. Sie sind die Trostspender der jüdischen Welt wie die Sibyllen die
Tröster der heidnischen. Denn auch den Heiden soll Heil widerfahren, nach dem
nennten Kapitel der Epistel Pauli an die Römer, wo es heißt, „daß Gott kund
thne den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefässen der Barmherzigkeit, die er
bereitet hat zur Herrlichkeit, welche er berufen hat, nämlich uns, nicht allein aus
den Juden, sondern auch aus den Heiden, wie er denn auch durch Hosea spricht:
Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war."
Was will Michelangelo nun aber mit den Gruppen in den Bogenfeldern
und Stichkappen sagen? Die Propheten und Sibyllen verheißen das dem Men-
schentums in Aussicht gestellte Heil, die Gruppen der Stichkappen und Lünetten schauen
nach ihm aus. Der Heilsverheißung entspricht das Heilsbegehren. Wir haben
hier die leidende Menschheit vor uns, die an den Sünden der Väter schwer zu
tragen hat. Wir sehen die erblich Belasteten, die Armen, die Unglückseligen, die
geistig Umnachteten, die vom Schicksale gezeichneten, die vom Blitze der Sünde
 
Annotationen