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Debler, Werner [Hrsg.]; Aderbauer, Herbert [Bearb.]
300 Jahre Dreifaltigkeitskapelle in Schwäbisch Gmünd: 1693 - 1993; Geschichte und Geschichten — Schwäbisch Gmünd, 1993

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https://doi.org/10.11588/diglit.42984#0075
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Die Dreifaltigkeits-Kapelle bei Schwäb. Gmünd
Erzählung von A. Winz
bearbeitet nach einer alten von A. S. in Schwäb. Gmünd mitgetheilten Familientradition*

1.
ajestätisch stieg die Sonne am Morgen des hohen Dreifal-
tigkeitssonntages vom Jahre 1693 am östlichen Horizonte
herauf, ihre goldenen Strahlen belebend auf die noch
schlummernde Natur breitend. Noch herrschte in den Mau-
ern der guten Stadt Gmünd geheimnißvolle Stille, ganz der
Würde des anbrechenden Tages angemessen. Keine flei-
ßige Hand regte sich, obgleich die freien Bürger von
Gmünd sonst in löblicher Frühe ihr ehrsames Tagwerk be-
gannen; legte sich doch Abends zuvor jeder fleißige Arbei-
ter mit dem süßen Bewußtsein zur Ruhe, der kommende Tag werde ihm Erholung und
Genuß zugleich spenden. Und wer hätte auch in der guten alten Zeit, namentlich in
Gmünd, an einem solchen Tage überhaupt arbeiten mögen! Da würde sich die ehrenwerthe
Zunft der Goldschmiede ein großes Gewissen daraus gemacht und Revolt geschlagen
haben, wenn es einer öffentlich gewagt hätte, gegen der verehrten Väter Sitte sich zu
versündigen.
Während also in der Stadt noch Alles sanft im Schlummer lag, begann es sich in der
freien Natur zu regen. Die befiederten Sänger des Waldes stimmten, gleichsam als Früh-
feier zum Lobe der hl. Dreifaltigkeit, ein tausendstimmiges Konzert an. Scheue Rehe
huschten durch die Büsche, um an der klaren Quelle sich zu laben. Auch Meister Lampe
reckte sich, rieb die Augen und setzte dann in muntern Sprüngen zum bekannten Kohlgar-
ten, seinen Morgenimbiß einzunehmen. Selbst Reinecke, der Schlaue, hatte mit Familie die
Höhle verlassen und lag an der warmen Morgensonne, sich in harmlosem Spiel mit den
possierlichen Jungen die Zeit vertreibend. Überreste von Knochen und Federn, die vor
seinem Baue lagen, ließen vermuthen, daß er sich Tags zuvor irgendwo einen fetten Bissen
geholt hatte. Fleißige Bienlein flogen summend in die blühende Rur. Heimchen zirpten,
Käfer schwirrten, buntfarbige Schmetterlinge naschten lüstern vom süßen Nektar der Blu-
men. - Die ganze Natur stand schon im Festesschmucke, als um 6 Uhr plötzlich in mächti-


* Die Gründungslegende der Dreifaltigkeitskapelle ist, wie Dr. Klaus Graf in seinem Beitrag berichtet hat, in
vielen bildlichen Darstellungen und literarischen Versionen erhalten geblieben. Albert Winz (1851-1922), ein
in Isenburg bei Horb geborener Volksschullehrer, der wohl während seines Studiums am Gmünder Kath.
Lehrerseminar (1867) auf die Legende gestoßen sein dürfte, hat die umfangreichste und eigenwilligste Schilde-
rung verfaßt. Als gefühlvolle Erzählung erschien sie 1877 in 7 Fortsetzungen im Katholischen Sonntagsblatt
und, leicht abgewandelt, 1923 in der Rems-Zeitungs-Beilage „Fürs traute Heim“. Sie ist ein Spiegel des
bürgerlich-katholischen Milieus der einstigen Reichsstadt Gmünd aus der Feder eines kirchentreuen Lehrers
des ausgehenden 19. Jahrhunderts, weshalb sie hier originalgetreu wiedergegeben worden ist.
Im nächsten Aufsatz hat sich der Germanist und Historiker Prof. Dr. Hubert Herkommer mit der phantasierei-
chen Winzschen Fassung mit ihrem pseudohistorischen Kolorit auseinandergesetzt und sie als ein kultur- und
sozialgeschichtliches Dokument interpretiert.

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