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Beck, Paul [Hrsg.]; Hofele, Engelbert [Hrsg.]; Diözese Rottenburg [Hrsg.]
Diözesan-Archiv von Schwaben: Organ für Geschichte, Altertumskunde, Kunst und Kultur der Diözese Rottenburg und der angrenzenden Gebiete — 10.1893

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Rueß, Bernhard: Das Schussenrieder Chorgestühl und dessen Meister, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.15868#0082

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welcher her, wohlverständlich für den Einsichtigen, ohne Aushören
die Fundamente der christlichen Sittenlehre gepredigt werden.
Die Gestalten an den Stiftsstühlen oben und unten, die Fi-
guren rechts und links, die Gebilde aus dem Nachtgebiete der
Schuld lind der Unvernunft und die Schöpfungen aus dem
Lichtreiche der Tugend entbieten schon seit beinahe zwei Jahr-
hunderten tagtäglich ihre wohlmeinende Warnung und ebenso
tagtäglich ihre herzliche Mahnung demjenigen Christen, wel-
cher ihre allerdings profanen Augen dunkel und rätselhaft
bleibende christkatholische Hieroglyphenschrift zu entziffern ver-
mag. Das Schussenrieder Chorgestühl hält jedem Beschauer
einen ungetrübten und unzerbrechlichen Pflichtenspiegel vor;
es ist nicht bloß ein höchst beachtenswertes Werk der christ-
lichen Kunst, sondern auch eine interessante Schöpfung der
christlichen Volksbelehrung; es ist eine treffliche sogenannte
„Armenbibel", in welcher der Arme, der des Lesens unkundig
ist, durch köstliche Produkte der Schnitzkunst Aufschluß über
die Grundelemente aller Sittlichkeit erhält! Vor aller Augen
wird da behandelt das unerschöpflich reiche Thema: Halte in
allweg Gottes Gebot vor Augen, bewahre es im Herzen und
rette so deine Seele!
Dies scheint uns der ziemlich naheliegende Ideengehalt
zu sein, welcher aus der Dekoration und dem Figurenreich-
tume des Gestühles dem aufmerksamen Beobacher unmittelbar
entgegentritt. Allein außer diesem fast von selbst sich dar-
bietenden primären Gedankeninhalte hat nach unserer Ansicht
dem Künstler noch eine andere, mehr sekundäre Jdeenreihe
vorgeschwebt. Zwar muß nicht geradezu ein solcher zweiter
Gesichtspunkt beim Meister des Gestühles vorausgesetzt wer-
den, aber man darf einen solchen doch wenigstens präsumieren.
Wenn nun auch der zweite, noch darzulegende Jdeenkreis sich
nicht so sicher konstatieren läßt wie der eben erörterte, so
meinen wir doch unsere Vermutung und deren Motivierung
nicht verschweigen zu sollen.
Welches ist nun die zweite an dem Schussenrieder
Chorgestühle verkörperte Jdeenreihe? — Ehe wir auf diese
Frage eine eigentliche Antwort gebe», werden wir ein paar
einleitende Gedanken aussprechen: Die Chorstühle sind der
Platz, an welchem ehedem die Mönche den größten Teil ihrer
täglichen Gebete verrichteten. Der erste und höchste Zweck
ihres Betens war das Lob und die Verherrlichung des
Allerhöchsten. Es trägt ja ein Teil des priesterlichen Brevier-
gebetspensums geradezu den Namen Lau des d. h. Lobgebete.
Die Ordensmänner verkündeten in diesen Stühlen das Lob
Gottes, indem sie die Psalmen und Hymnen teilweise einfach
laut recitierten, teilweise aber unter Orgelbegleitung sangen.
Aus letzterem Grunde war vorn beim Hochaltäre eine eigene
Miniaturorgel, die sogenannte Chororgel aufgestellt. In ganz
ähnlicher Weise, wie die ehemaligen hiesigen Klostergeistlichen
das Chorgestühl besonders zu dem Zwecke bezogen, um in
demselben die göttliche Majestät zu preisen, soll auch jetzt
noch der Eintritt in das Gotteshaus dem Lobe, der Huldi-
gung und Verherrlichung des Allerhöchsten gelten. Es liegt
nun die Annahme sehr nahe, der Künstler möchte in den
Chorstühlen das in denselben zu spendende Gotteslob bild-
nerisch zum Ausdruck gebracht haben. In dieser Ansicht wer-
den wir noch hochgradig bestärkt durch folgende Thatsache:
An den Chorstühlen sind die Bilder musikalischer Instrumente
und die Figuren von Tonkünstlern in so großer Zahl und in
so prononzierter Weise vertreten, wie dies sonst nur an Orgel-
gehäusen und überhaupt in der schmückenden Umgebung von
Orgeln vorzukommen Pflegt. Daraus läßt sich schließen, daß
der Meister das im Gotteshause früher hauptsächlich seitens

der Ordensmänner und jetzt seitens der Kirchenbesucher über-
haupt zu spendende Gotteslob am Gestühle künstlerisch dar-
stellen und zugleich auch zur Lobpreisung des Allerhöchsten
an ei fern wollte.
In der That ist der Nachweis nicht schwer, daß dem
Meister bei seinem Schaffen jene Partie aus den priesterlichen
Stundengebeten vorgeschwebt haben muß, welche man die
Landes, Lobgebete nennt; und zwar finden wir am Ge-
stühle näherhin eine Verkörperung von Versen aus dem Ge-
sänge der drei jüdischen Jünglinge, welche wunder-
bar aus den Gluten des Feuerofens errettet worden waren
und nach ihrer Befreiung das im dritten Kapitel der Pro-
phetien Daniels niedergeschriebene Loblied gesungen haben.
Ebenso ist das Gestühl eine bildnerische Darstellung
der (obigem Liede nach Inhalt und Form verwandten) drei
letzten Psalmen. Ans den vier genannten heiligen Ge-
sängen hat unser Holzschneidekünstler einzelne Stellen mit
evidenter Absichtlichkeit und auffallender Deutlichkeit wieder-
gegeben. Das rasch verhallende und entschwebende Wort und
Lied des religiösen Dichters hat somit in den Figuren und
Bildern unseres Meisters eine faßbare, bleibende Gestalt ge-
wonnen. Was fromme Sänger ehedem für das Ohr ge-
schaffen hatten, das wurde vom einem tüchtigen Holzschnitzer
in Schussenried für das Auge fixiert. Das Gesagte wollen
wir nun im einzelnen näher begründen:
n) Eine künstlerische Darstellung des 150. Psalms tritt uns
entgegen, wenn am Gestühle ein Heer von Musikanten und Spielern
auf verschiedenen Instrumenten sichtbar ist. Wenn die Pauke
geschlagen und die Trompete geblasen wird, wenn der Ton der
Flöte erklingt und der Resonanzboden der Guitarre den Klang
der Saiten widerhallt, wenn Harfner und Geiger und Hoboist
im Dienste der Tonkunst sich abmüht n sollen wir in all dem
nicht einen künstlerischen Ausdruck für die Psalmworte finden:
„Lobet den Herrn mit Trompetenschall, lobet ihn mit Saiten-
spiel und Zither! Lobet ihn mit Pauken und Reigen; lobet
ihn mit Saiten und Schalmeien! Lobet ihn mit hellklingenden
Cymbeln, lobet ihn mit Cymbeln des Jubels!?"
b) Bekanntlich haben die alttestamentlichen religiösen
Sänger sich selbst zum gebührenden und adäquaten Gotteslobe
unvermögend gefühlt. Daher forderten sie die ganze Schöpfung
zum Preise Jehovas auf. Sogar die vernunftlosen Kreaturen
sollten nach ihrem Wunsche wenigstens durch die stumme
Sprache ihrer Existenz als Zeugen der göttlichen Allmacht
zur Verherrlichung des Allerhöchsten beitragen. Auch dieser
Gedanke ist am Gestühle mehrfach verkörpert worden: Denn
der Blumenflor, welcher den unteren Gestühlspartien ent-
sproßt; die Arabesken, welche ihre Blätter und Zweige
um das Gestühl ranken und durch maunigfache Verschlingungen
große Abwechslung bewirken; die Früchte, welche aus zahl-
reichen Füllhörnern heräuswinken; die allerorts am Gestühle
sichtbaren'Gesträuche und Pflanzen: hauchen sie denn
nicht alle schon durch ihr bloßes Dasein Gottes Ehre fördernd,
gleichsam den Gedanken der drei Jünglinge aus, welcher
lautet: „Preiset alle Gewächse auf Erden den Herrn, lobet
und hochrühmet denselben in Ewigkeit!?" (Daniel 3, 76).
c) Wenn sodann ehedem den alten Mönchen vor Beginn
ihrer Gebete am Gestühle die Bilder so mancher heiligen
Berge in die Augen sielen; wenn sie die Höhen des jüdi-
schen Gebirges schauten, wo den begeisterten Lippen Mariä
das Magnisikat entquoll; weun sie den Sionshügcl an einem
Relief des Gestühlsdorsales erblickten, auf welchem das jüdische
Nationalheiligtum thronte und der hl. Geist als der Bringer
der Andacht den Aposteln gesendet worden war; wenn sie den
 
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