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Beilage zu M 13 der „Dioskuren".

an einer solchen Größe die technische Ausführung am breitesten ausdehnen
und am freiesten bewegen kann. Ihre Vorwürfe haben zwar, damit sie in
dieser Beziehung doch nicht ganz leer sind, meist irgend eine volksthümliche
oder sociale Beziehung, ohne jedoch diese Beziehung bis zur Aktion zu steigern.
Bald ist es ein „Mädchen am Brunnen", welches in Gedanken versunken ist,
wie das lebensgroße Bild von Eich (Nr. 174), welches trotz der mannig-
fachen Mängel in der Zeichnung und Modellirung doch ein bemerkenswerthes
Streben nach Tiefe und Wärme des Kolorits zeigt, und einen etwas monu-
mentalen Charakter hat, als sei die Figur aus einem Freskobilde herausge-
schnitten; — bald ist es „eine junge Blumenverkäuferin", wie (Nr. 602) von
Clara Öenicke, worin sich eine tüchtige Routine und ein sinniger Geschmack
offenbart; — bald ein „Goldmacher", wie (Nr. 101) von H. Brücke, dessen
Handlung jedoch schon mehr Bewegung zeigt; — bald ein „Kapuziner", wie
(Nr. 970) von H. Wolfram, ein in Rücksicht auf Farbe viel versprechendes
Bild; — bald „Ruhende italienische Knaben", wie (Nr. 240) von Emil Funk
oder auch ein „römischer Knabe", wie l Nr. 292) von S. Grün, übrigens
in der Farbe wie in der ganzen Auffassung ein vortreffliches und von bedeu-
tendem Talent zeugendes Bild; — bald ein „blinder Geiger", wie (Nr. 1381)
von F. Hiddemann, oder ein „blinder Flötenblaser", wie (Nr. 962) von
Wietersheim, beide recht sorgsam ausgeführt und nicht ohne warme Em-
pfindung charaktcrisirt u. s. f. Eben dahin könnten wir noch zahlreiche andere
Bilder rechnen, wie das vortreffliche Gemälde von Fay: „Wallfahrerin für
ihr fieberkrankes Kind um Hülfe bittend, römische Campagna" (dir. 1367),
obschon hier auch ein großes Gewicht auf die Landschaft, welche von poetischer
Wirkung ist, gelegt wird; u. a. m. Bei solchen Darstellungen läßt sich eben
nicht viel beschreiben, theils weil die Gegenstände schon zu oft dagewesen und
verbraucht sind, theils weil sie für die Phantasie überhaupt zu wenig darbie-
ten. Es bliebe also nur die Technik zu charakterisiren. Nun aber müssen
wir gestehen — und wir sprechen dies hier, wie wir es anderen Ortes schon
öfters gethan, offen aus — daß wir die Technik, sie müßte denn eine ganz
besondere Meisterschaft verrathen und als cigenthümlicke Virtuosität sich gel-
tend machen, nur dann erwähnenswerth halten, wenn sie bei einem Motiv
angewandt ist, das als solches hinlänglich interessant ist, um durch seine inner-
liche Bedeutsamkeit auch die Mittel der Darstellung in das Interesse hinein
zu ziehen. Denn das Machwerk ist und bleibt Mittel zum Zweck, und durch
jede Umkehrung des Verhältnisses stellt sich der Verfertiger nicht nur ein
Armuthszeuguiß als geistig schaffender Künstler aus, sondern wirkt auch höchst
nachtheilig auf den unbefangenen Geschmack des Publikums. Erst habt Ideen,
ihr Künstler, und dann denkt daran, sie durch die besten Mittel zum möglichst
vollendeten Ausdruck zu bringen, aber glaubt nicht, wenn ihr das erste beste
Modell von der Straße nehmt, daß ihr durch seine getreue Nachmalerei und
durch die Beihülfe eines armseligen äußerlichen Arrangements schon ein „Bild",
d. h. ein Kunstwerk, schaffen könnt, wenn ihr euch auch noch so viel Mühe
mit Farbe und Zeichnung gebt.

Den Gegensatz zu dieser Richtung bilden nun unsere, wie wir sie nennen
möchten, „kleinen Meister" des socialen Genres, unter denen sich übrigens
recht große Künstler befinden, wie Tidemand, R. Jordan, Cretius rc.
Diese Richtung, obwohl individuell nach den Motiven und Darstellungsweisen
sehr verschieden, besitzt doch darin einen ganz bestimmten Charakter, daß sie
eben — Charakter besitzt. Bei ungemein gediegener Technik bildet in ihr doch
das eigentliche Machwerk immer nur das Organ für die gehaltvolle innere
Charakteristik des stets lebenswahren und lebendig zur Darstellung gebrachten
Vorwurfs. Wir werden später unter dem „Naiven Genre" einer ähnlich ge-
haltvollen Richtung begegnen, welche durch E. Meyerheim, Meyer von Bremen,
Sondermann, Heckel, Böser u. A. vertreten ist.

A. Tidemand ist diesmal nur durch ein Bild vertreten: „die Nachbarn"
(Nr. 1605), mit welchem wir beginnen, weil es ani schicklichsten den Ueber-
gang von jener im Motiv weniger bedeutsamen Richtung zu dem jetzt betre-
tenen ^Gebiete macht. Schon der Titel deutet wenig an, und die Auffassung
beschränkt sich absichtlich auf eine bloße Scenirung. Ein alter Bauer sitzt
mit einer jungen Bäuerin, seiner Tochter oder Schwiegertochter, auf einer
Bank an der Wand der Wohnstube, durch deren niedriges offenes Fenster
ein Nachbar hereinlehnt, um den beiden aufmerksam Zuhörenden eine inter-
essante Neuigkeit mitzutheilen. Die Mischung von phlegmatischer Ruhe und
derber Gutmüthigkeit, welche den physioguomischen Typus der drei Figuren
bildet, ist fein charaktcrisirt; und trotz des Mangels einer eigentlichen Hand-
lung klingt das Bild durch seine Anspruchslosigkeit in der Darstellung und
durch die Naturwahrheit der ganzen Scenirung doch sehr an das Gefühl.
In der Malerei, welche die ganze Schönheit und Noblesse des Tidemand'schen
Pinsels zur Geltung bringt, glauben wir doch eine gewisse Unklarheit oder
Unbestimmtheit in den Formen bemerken zu müssen, welche die volle Wirkung
des Bildes in eine Entfernung rückt, welche der Kleinheit des Rahmens und
der Figuren nicht angemessen erscheint. Es bekommt dadurch etwas Manirir-
tes, weil der Künstler das kleine Bild in derselben Manier gemalt hat, wie
seine größeren, die dem Beschauer durch ihre Größe eben einen ferneren
Standpunkt anweisen.

Rudolph Jordan ist durch vier Bilder vertreten, in denen sich eine

Srße Tiefe der Empfindung offenbart, wenn diese auch mit Rücksicht auf die
otwe von mehr oder minder bedeutender Wirkung ist. Das bedeutendste
unter ihnen scheint in jedem Betracht Nr. 407: „die Wittwe und ihr Trost".
Eine arme Fischerwittwe sitzt, in ihrer Trauer um den Verlust ihres Mannes
vor sich hinstarrend, einsam in der Stube, während ihre beiden Kinder am
Boden spielen. Da tritt eine gutmüthige Nachbarin zu ihr, um sie zu trösten,
Der beste Trost, meint sie, aus die in unbefangener Heiterkeit sich ihrem Spiele

überlassenen Kinder hindeutend, seien diese hier; und es sei gottlos, sich so zu
härmen, so lange sie diese noch habe. Dieser Gedanke ist mit so erschütternder
Wahrheit und so liebenswürdiger und rührender Anspruchslosigkeit zur Dar-
stellung gebracht, daß man über dem Beschauen dieses gediegenen Bildes die
großen technischen Vorzüge, welche es auszeichnet, fast übersieht. Ihm zu-
nächst steht das schöne Bild: „In der Kirche. Kostüm der Insel Marken im
Zuider-See" (Nr. 406), welches ebenfalls ein echtes Stück aus dem Volksleben
darstellt, und *ugletd) auch in allgemein-menschlicher Beziehung von tieferem
Interesse ist. Man blickt über eine Reihe Bänke fort, den frommen Andäch-
tigen entgegen. Hinter der ersten Bank steht ein junger Fischer neben einem
jungen Mädchen, welche zusammen in ein Gesangbuch sehen — oder zu sehen
scheinen. Denn in der That scheint der junge Bursche mit einem halben Sei-
tenblick auf seine schöne Nachbarin und diese hält zwar ihre Angen wirklich
auf das Buch gerichtet, aber man weiß ja, daß die jungen Mädchen einen
von der Richtung des Auges ganz unabhängigen Blick haben. Diese Gruppe
ist sehr fein gedacht und mit Zartheit ausgeführt. Weiter steht ein alter Fi-
scher, an den sich dann die andern Betenden anschließen, deren andächtige,
etwas phlegmatische Aufmerksamkeit auf den Text des Gesanges mit jener
stummen, aber innerlich bewegten Herzensandacht des jungen Paares vortreff-
lich kontrastirt. Das dritte Moment in diesem Kontrast bildet ein kleines, auf
der vordersten Bank sich hiurekelndes Mädchen, welche weder auf die eine noch
auf die andre Weise andächtig ist, weil sie noch weder von dem Gesänge noch
von der Liebe etwas versteht, und sich nur langweilt, daß es noch immer
„nicht aus" ist, um draußen umher spielen zu können. Diese Partie des Bil-
des ist halb im Schatten und vorzugsweise meisterhaft gemalt. Uebrigens be-
sitzt das Bild im Ganzen eine Kraft und Gediegenheit des Kolorits, welche
es mit dem vorher erwähnten ans gleiche Stufe stellen, und welche die beiden
andern „die glückliche Heimkehr" (Nr. 1386) und „Häuslichkeit eines alten
Junggesellen" (Nr. 408) nicht in dem Grade zeigen. Diese sind mehr hei-
teren Gepräges und nicht von so feiner Charakteristik, wie die ersteren beiden,
obschon sie immer Werke sind, die Jordan's würdig erscheinen. — In ein
ähnliches Genre schlägt das recht verdienstliche Bild von H ausman „Heim-
kehr von einem glücklichen Fischfang" (Nr. 312), sowie I. Wagener's
„Kleine Fischerin" (Nr. 926). Beide sind recht frisch koncipirt und lebendig
in der Durchführung.

Einem andern Gebiete und, in der Technik, einer andern Schule gehören
die nicht minder gediegenen Bilder von Cretius an. Es sind fünf, von
denen wir einige: „Unterricht im Zitherspiel" (Nr. 145)*) und „Strafpredigt"
(Nr. 144)**) bereits früher erwähnt haben. Die drei andern: „Ein italieni-
scher Arzt" (Nr. 141), „Ein Winkeladvokat in Rom" (Nr. 142) und „Ein
öffentlicher Schreiber" (Nr. 143) bilden Pendants zu einander und zeichnen
sich in gleicher Weise durch feine und charaktervolle Komposition, sowie durch
eine ungemein delikate aber zugleich kraftvolle und gesunde Technik aus. Der
„italienische Arzt" stellt eine höchst ergötzliche Scene zwischen einem Arzte dar,
welcher von einer Italienerin ans dem Volke in Betreff ihrer ebenfalls gegen-
wärtigen, angeblichlich kranken Tochter konsultirt wird. Letztere sitzt mehr nach
dem Vordergründe zu fast theilnahnilos auf einem Stuhle, während die Mutter
dem sehr gelehrt drein blickenden Arzte verschiedentliche geheimnißvolle Mit-
theilungen über den bedenklichen Zustand ihrer Tochter macht. Geheimniß-
voller Natur müssen sie wohl sein, denn sie spricht leise und mit vorgehaltener
Hand, und bedenklich auch, wenn nian dies aus dem ernsten Stirnfalten des
Arztes schließen darf, der in halber Verlegenheit in die offen neben ihm auf
dem Tische stehende Dose greift, wahrscheinlich um sein diagnostisches Organ
zu stärken, während er zugleich mit einem die ärztliche Würde in bedeutsamer
Weise offenbarenden starken Heraufziehen der Unterlippe die kranke Schöne be-
trachtet. Die guten Alten, sie ahnen offenbar beide nicht die Quelle des Leidens,
welche das junge Mädchen peinigt. Den Beschauer wenigstens will es be-
dünken, als ob die Mutter gar nicht nöthig gehabt hätte, soweit zu gehen,
um den rechten Arzt für die Krankheit ihrer Tochter zu finden. Er (der Be-
schauer nämlich) ist der Ansicht, daß da ein junger Bursche in der Nachbar-
schaft zu Haufe existire, welcher, ohne besondere medizinische Kenntnisse zu
besitzen, den Schaden wohl am sichersten kuriren könne, da er ihn selber ver-
ursacht. — Man glaube nicht, daß wir Beziehungen in das Bild hinein tragen,
die wirklich nicht ausgesprochen darin liegen. Es herrscht eine fo feine, be-
ziehungsvolle Charakteristik in der ganzen Komposition und zugleich eine so
absichtslose Objektivität in der Darstellung, daß alle jene Beziehungen und
noch manche andre, zart angedeutete in Betreff der Art der Krankheit voll-
kommen in die Erscheinung treten. Was das Kolorit betrifft, so darf mau
dies bei Cretius kaum besonders hervorheben, da er als tüchtiger und gedie-
gener Kolorist längst bekannt ist. Was wir aber darin nicht unerwähnt lassen
dürfen, ist die innige Durchdringung von Farbe und Komposition und, was
wir Eingangs dieses Abschnitts andeuteten, die ästhetische und verständige
Unterordnung der technischen Mittel unter die höheren Zwecke der Motiv-
darstellung. ~

Als eine besondere Unterabtheilung des Socialen Genres betrachten
wir noch

7. Das Konversationsgenre.

Die sogenannten Konversationsstücke bilden eine eigenthümliche Klasse vo»
Bildern, welche, streng genommen, traditionell aus der altfranzösischen Schuss
des vorigen Jahrhunderts (Lancret u. s. f.) uns überkommen ist, und dw

*) Siehe Nr. 8 der „Dioskuren" unter den „Kritischen Wanderungen."

**) S. Nr. X ebend.
 
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