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Dittmann, Lorenz; Ricardon, Jean [Hrsg.]
Jean Ricardon — [S.l.], 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.29725#0072
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Und plötzlich verstummt ihre Stimme wie zuvor Stimme um Stimme
ihrer Schwestern."^
Zwei Bildnisse noch seien erwähnt, in denen das Antlitz nun vor die
Weite des ins Dunkle vertieften Grundes gestellt ist. ,,Visage de profil
accompagne" 1982 (112 x 87 cm, Privatsammlung, Abb.41) entsen-
det aus einer Horizontalzone oben links Schrägen nach oben und un-
ten rechts, von unten steigt eine breite Schräge auf nach rechts und
weist zu einem weißen und einem dunklen ,,Auge". In großen
Schrägbahnen also wird das Bild durchmessen. Das zweite Formthe-
ma, das Gerüst von Senk- und Waagrechten wird hinterlegt von ei-
nem wie Nebelschwaden ziehenden Grund unterschiedlicher Dunkel-
stufen, in den auch die exakten Schrägstreifen eingreifen wie umge-
kehrt die geometrisch klaren Formen von Oval und Dreieck in beweg-
ter Farbmaterie erscheinen. Versteht man die Schrägen als Hinweis
auf einander begegnende Profile, so zeigt sich nun das Antlitz expo-
niert vor kosmischer Weite.
Ähnlich schweben auch im ,,Visage de profil", 1984 (127 x 100 cm,
Privatsammlung, Abb.42) Dreieck (Nase), Rechteck (Wange) und die
ergänzenden Formen für Augen und Mund still vor den weiten Hori-
zonten eines sich in unbestimmbare Ferne entziehenden Grundes. Der
Monumentalität der Formen entspricht ihre feierliche Präsentation und
ihre das Unbegrenzte definierende Macht: als Bild einer Person in ihrer
selbstgewissen, eine Welt umfassenden Souveränität.
Gegenstrebige Harmonie: Bogen und Leier
Ein von Plutarch überlieferter Ausspruch Heraklits lautet: ,,Denn
die Harmonie des Kosmos ist elastisch (zurückschnellend) wie bei
Leier und Bogen.Ein anderer, das Fragment 51: ,,Sie verste-
hen nicht, wie das Zertrennte mit sich selbst übereinstimmt: gegen-
strebige Harmonie wie bei Bogen und Leier". ^
,,Gegenstrebige Harmonie" ist Wesensmerkmal auch von Kunst,
in ,,gegenstrebiger Harmonie" gründet Ricardons Schaffen. Michel
Seuphor schrieb am 20. Februar 1980 über Ricardon: L'oeuvre est
ambigue. Fortement structuree par endroit, floue ailleurs, la geome-
trie s'y conjuge avec l'informe — comme le roc semble dialoguer
avec le nuage — pour composer une Symphonie en grisaille dont
les themes et les harmonies, malgre cette grande retenue, ont sur le
regard de l'observateur un effet de puissance, de puissance et
d'apaisement." Eine Aufzeichnung Seuphors vom 22. Februar
1980 lautet: ,,Jean Ricardon est un homme ä la discipline severe et
nerveuse; d'autre part, il a fortement le sens du mystere. Choses dis-

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