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zeigen und zu verkünden. — Der dumm: Haufe wird weder
heute nach Größe fragen, noch that er cs je, aber daß dies
ganze „Geschlecht" so unempfänglich für das Große sei, das
glaubt der Dichter muthmaßlich selber nicht so in: Ernste; seine
ganze eigene warme Anschauungsweise spricht lebhaft gegen diesen
Verdacht. Doch „dies sei dies". Dergleichen sind Stäubchen, die
man nur bemerkt, weil der Guß des Gedichtes so rein ist. Er fließt
so anmuthreich dahin, daß sich ganze Stellen leicht dem Gedächtniß
einprägen, wenn das Auge einigemal darüber hingeglitten; aber er-
trägt auch Schönheiten mit sich, welche ihre Gegenwart erst beim
aufmerksameren Lesen entschleiern; es ist wie bei einem Rosenstrauch;
er blüht fort und es sind immer andere frische Rosen, heute entzückt
uns diese, morgen jene, diese blüht allen Blicken frei, jene war halb
im Grün versteckt. Wir würden nach und nach den ganzen näheren
Inhalt verrathen, wollten wir alle schönen Züge besonders anführen,
und können unsre Leser nur ersuchen, selber zu lesen. Um aber doch
einen Begriff von dem Reiz des Vortrags zu geben, sei es erlaubt,
einige Strophen anzusühren; wir wählen solche, die sich zugleich auf
den Vortrag beziehn. Der vierte Gesang hebt an:
Des Himmels gcldne Pforten sprangen auf
Dem schönen Gott des Lichtes und der Lieder.
Die Sonnenrosse stürmten hin im Lauf
Und sprühten ihren Schaum als Thau hernieder.
Ein Schwarm von Liebesgöttern flog vorauf
Und senkte rasch zur Erde das Gefieder,
Um abznl'ösen ihrer Brüder Schaaren,
Die dort zu Nacht ans ihren Posten waren.
So etwa würd' ich den Gesang beginnen,
War' die Antike nicht so streng verfehmt.
Ich weiß, daß manche meiner Leserinnen
Sich dieses Zopfs in meine Seele schämt.
Getrost! Auf andern Anfang will ich sinnen:
Streicht diesen aus, wenn ihr ihn übel nehmt;
Denn euch gefällig sein ist all mein Sorgen.
Nun denn: Es war ein äußerst schöner Morgen.
Zwar, soll ich ehrlich meine Meinung sagen,
Schlecht war die Strophe nicht. Ach, wenn ihr wüßtet,
Wie jetzt ein Epiker hat sich zu plagen,
Seitdem euch nicht nach Göttern mehr geleistet.
Nun muß er seine Helden selber fragen,
Wo sonst ein Gott mit Weisheit ihn gerüstet,
Und den erlauchten Seherblick erniedern
Zn nüchtern psychologischem Zergliedern.
Der „lyrische Anhang" darf kaum Anhang genannt werden
Er bildet ein Buch voll Lieder, welches an Umfang nicht geringer
ist, als das epische Gedicht. Aber auch nicht an Gewicht. Es ist
gewiß eine sehr sorgfältige Auswahl, da man leicht von jedem ge-
fesselt wird und nicht erst nach den besonders anklingenden zu blättern
braucht, mehr noch, da uns manches Heyse'sche Lied im Gedächtniß
hängen geblieben ist, das sich mündlich und schriftlich fortgepfianzt
hat und das wir hier vergeblich gesucht haben. Diese Zurückhaltung
berührt angenehm, den vielen jungen Lyrikern gegenüber, die nicht
bloß überhaupt anstimmen, sondern dann auch gleich Alles durch den
Schnabel gehen lassen, was je, ob später reif geworden oder nicht,
in der Seele erwacht ist. Die Gedichte sind in drei Abtheilungen
gruppirt: Lieder, Reisetagebuch, Heimath. In den Liedern herrscht
dieser zauberhastr helldunkle Ton, welcher das eigentliche Wesen der
Lyrik ausmacht, und den musikalischen Gefühlsströmungen in unsrer
Seele nur einen halb von ihnen verschlungenen Text unterlegt. Ein
Beispiel sei vergönnt:
Stimme der Nacht.
Nur eine Wachtel schlug im Feld,
Da ich vorüber ging,
Nur eine letzte Glocke rief,
Die hoch im Thurme hing.
Verhallt die wirre Meuscheulust,
Der wunde Menscheuschrei.
So still der Wald! Es rauscht der Strom
Mit halbem Klang vorbei.
Ein lautlos feuchter Uferwind
Erregt dein Blut mit Macht,
Und nur die eine Liebe ruft
Vernehmlich durch die Nacht.
In dem Reisetagebuche sind die meisten Gaben aus des Dich-
ters italienischen Aufenthalt, namentlich in Sorrent, dem selber ein
wunderschönes klangvolles Lied gewidmet wird. Mit äußerst reizen-
dem Humor sind acht den Lacerten geweihte Gedichte behandelt. Diese
zierlichen Geschöpfe scheinen dem Verfasser ein besondres Wohlgefallen
abgelockt zu haben.
Die Heimath enthält unter andern schönen lyrischen Ergüssen
einige Balladen, die den charakteristischen Vorzug haben, in Ton,
! Versbau, Melodie, kurz dem ganzen Vortrag durchaus das passendste
Kleid ihres Inhalts zu tragen. In der bedeutendsten in „Schamyl
und seine Mutter" gicbt es wieder einmal einen Fall, wo — bei
; dem überaus fesselnden Stoffe und seiner meisterhaften Formbehand-
lung — wir die Leser schon in Gedanken in zwei entschiedene Parteien
gcthcilt sehen, ob der Dichter das sonst sicher in seiner Hand ruhende
Maaß festgehalten habe, oder nicht. Es handelt sich darum, wie der
! Held Schamyl nach einem furchtbaren innern Kampfe, seiner schul-
digen, durch Gottcsausspruch zur Geißelung verurtheiltcn Mutter
als ausübender Richter gegenüber tritt. Er findet die herrliche Lö-
sung, sich selber unnachsichtlich für die Schuldige geißeln zu lassen,
erst nack den ersten Schlägen aus seine Erzeugerin. Wir gestehen,
daß wir zu denen treten, welche die Lösung vor dem ersten Hiebe
für möglich und schön halten.
I Den Schluß des Ganzen bilden Sprüche, unter denen dieser
! Jenen und jener Diesen besonders treffen oder anmuthen wird. Daß
Knappheit der Form, eine besonders hervorragende Eigenschaft der
Heyfe'schen Muse, sich namentlich hier in Epigrammen bewährt, ließ
sich erwarten. —
So hat der Dichter die lebenden Zeugnisse seines Talentes um
eine höchst ansprechende Gabe vermehrt, und wir wünschen ihm von
Herzen, daß, uns zur Freude und zum dankbaren Genüsse, nach seinen
eignen Werten dies „Geschaffene wieder zeuge."
Bliithen der Nacht. Lieder und Dichtungen von Amara
j George. Eingeführt durch Alexander Kaufmann. Leipzig. F. A. Brock-
j Haus. 1856.
Gedichte. Bon Carl Siebet. Leipzig, Otto Wiegand. 1856.
Wenn Amara George Seite 38 dichtet: „da holet' ich herbei die
Briefe mir" und Seite 50: „und streichet' ich mit leichter Hand," statt „holte"
und „streichle," während Carl Siebet singt: Seite 96: „die tändelen hin
und tändelen her" und Seite 99: „Und es trägt sie der Zephyr aufFlü-
gelen sacht" statt „tändeln" und „Flügeln"; so soll das hier nicht etwa her-
ausgehoben und zusammengestellt sein, um anzndenten, daß beide Poeten
gleichen Schlages seien. Amara George ist wenigstens mit dem, wenn
auch mißlungenen Streben nach Vermeidung des Hiatus zu entschuldigen;
Carl Siebet kann nicht einmal dies für sich anführen; bessere Verse hätten
aber Beide machen können!
In: Uebrigen sind unsere Dichterin und unser Dichter, nicht blos ge-
schlechtlich, auch an Geistesgaben und aesthetischem Naturell sehr verschieden.
Wir glauben zwar, daß Herr Kaufmann in seiner „Einführungsvor-
rede" sich von seinem pflegeväterlichen Eifer etwas zu weit hat führen las-
sen, wenn er (Seite VII.) die Begeisterung gewissermaaßen zu seiner eige-
nen macht, mit welcher sein Mitcurator Daumer von ihrer gemeinsamen
Mündel singt:
zeigen und zu verkünden. — Der dumm: Haufe wird weder
heute nach Größe fragen, noch that er cs je, aber daß dies
ganze „Geschlecht" so unempfänglich für das Große sei, das
glaubt der Dichter muthmaßlich selber nicht so in: Ernste; seine
ganze eigene warme Anschauungsweise spricht lebhaft gegen diesen
Verdacht. Doch „dies sei dies". Dergleichen sind Stäubchen, die
man nur bemerkt, weil der Guß des Gedichtes so rein ist. Er fließt
so anmuthreich dahin, daß sich ganze Stellen leicht dem Gedächtniß
einprägen, wenn das Auge einigemal darüber hingeglitten; aber er-
trägt auch Schönheiten mit sich, welche ihre Gegenwart erst beim
aufmerksameren Lesen entschleiern; es ist wie bei einem Rosenstrauch;
er blüht fort und es sind immer andere frische Rosen, heute entzückt
uns diese, morgen jene, diese blüht allen Blicken frei, jene war halb
im Grün versteckt. Wir würden nach und nach den ganzen näheren
Inhalt verrathen, wollten wir alle schönen Züge besonders anführen,
und können unsre Leser nur ersuchen, selber zu lesen. Um aber doch
einen Begriff von dem Reiz des Vortrags zu geben, sei es erlaubt,
einige Strophen anzusühren; wir wählen solche, die sich zugleich auf
den Vortrag beziehn. Der vierte Gesang hebt an:
Des Himmels gcldne Pforten sprangen auf
Dem schönen Gott des Lichtes und der Lieder.
Die Sonnenrosse stürmten hin im Lauf
Und sprühten ihren Schaum als Thau hernieder.
Ein Schwarm von Liebesgöttern flog vorauf
Und senkte rasch zur Erde das Gefieder,
Um abznl'ösen ihrer Brüder Schaaren,
Die dort zu Nacht ans ihren Posten waren.
So etwa würd' ich den Gesang beginnen,
War' die Antike nicht so streng verfehmt.
Ich weiß, daß manche meiner Leserinnen
Sich dieses Zopfs in meine Seele schämt.
Getrost! Auf andern Anfang will ich sinnen:
Streicht diesen aus, wenn ihr ihn übel nehmt;
Denn euch gefällig sein ist all mein Sorgen.
Nun denn: Es war ein äußerst schöner Morgen.
Zwar, soll ich ehrlich meine Meinung sagen,
Schlecht war die Strophe nicht. Ach, wenn ihr wüßtet,
Wie jetzt ein Epiker hat sich zu plagen,
Seitdem euch nicht nach Göttern mehr geleistet.
Nun muß er seine Helden selber fragen,
Wo sonst ein Gott mit Weisheit ihn gerüstet,
Und den erlauchten Seherblick erniedern
Zn nüchtern psychologischem Zergliedern.
Der „lyrische Anhang" darf kaum Anhang genannt werden
Er bildet ein Buch voll Lieder, welches an Umfang nicht geringer
ist, als das epische Gedicht. Aber auch nicht an Gewicht. Es ist
gewiß eine sehr sorgfältige Auswahl, da man leicht von jedem ge-
fesselt wird und nicht erst nach den besonders anklingenden zu blättern
braucht, mehr noch, da uns manches Heyse'sche Lied im Gedächtniß
hängen geblieben ist, das sich mündlich und schriftlich fortgepfianzt
hat und das wir hier vergeblich gesucht haben. Diese Zurückhaltung
berührt angenehm, den vielen jungen Lyrikern gegenüber, die nicht
bloß überhaupt anstimmen, sondern dann auch gleich Alles durch den
Schnabel gehen lassen, was je, ob später reif geworden oder nicht,
in der Seele erwacht ist. Die Gedichte sind in drei Abtheilungen
gruppirt: Lieder, Reisetagebuch, Heimath. In den Liedern herrscht
dieser zauberhastr helldunkle Ton, welcher das eigentliche Wesen der
Lyrik ausmacht, und den musikalischen Gefühlsströmungen in unsrer
Seele nur einen halb von ihnen verschlungenen Text unterlegt. Ein
Beispiel sei vergönnt:
Stimme der Nacht.
Nur eine Wachtel schlug im Feld,
Da ich vorüber ging,
Nur eine letzte Glocke rief,
Die hoch im Thurme hing.
Verhallt die wirre Meuscheulust,
Der wunde Menscheuschrei.
So still der Wald! Es rauscht der Strom
Mit halbem Klang vorbei.
Ein lautlos feuchter Uferwind
Erregt dein Blut mit Macht,
Und nur die eine Liebe ruft
Vernehmlich durch die Nacht.
In dem Reisetagebuche sind die meisten Gaben aus des Dich-
ters italienischen Aufenthalt, namentlich in Sorrent, dem selber ein
wunderschönes klangvolles Lied gewidmet wird. Mit äußerst reizen-
dem Humor sind acht den Lacerten geweihte Gedichte behandelt. Diese
zierlichen Geschöpfe scheinen dem Verfasser ein besondres Wohlgefallen
abgelockt zu haben.
Die Heimath enthält unter andern schönen lyrischen Ergüssen
einige Balladen, die den charakteristischen Vorzug haben, in Ton,
! Versbau, Melodie, kurz dem ganzen Vortrag durchaus das passendste
Kleid ihres Inhalts zu tragen. In der bedeutendsten in „Schamyl
und seine Mutter" gicbt es wieder einmal einen Fall, wo — bei
; dem überaus fesselnden Stoffe und seiner meisterhaften Formbehand-
lung — wir die Leser schon in Gedanken in zwei entschiedene Parteien
gcthcilt sehen, ob der Dichter das sonst sicher in seiner Hand ruhende
Maaß festgehalten habe, oder nicht. Es handelt sich darum, wie der
! Held Schamyl nach einem furchtbaren innern Kampfe, seiner schul-
digen, durch Gottcsausspruch zur Geißelung verurtheiltcn Mutter
als ausübender Richter gegenüber tritt. Er findet die herrliche Lö-
sung, sich selber unnachsichtlich für die Schuldige geißeln zu lassen,
erst nack den ersten Schlägen aus seine Erzeugerin. Wir gestehen,
daß wir zu denen treten, welche die Lösung vor dem ersten Hiebe
für möglich und schön halten.
I Den Schluß des Ganzen bilden Sprüche, unter denen dieser
! Jenen und jener Diesen besonders treffen oder anmuthen wird. Daß
Knappheit der Form, eine besonders hervorragende Eigenschaft der
Heyfe'schen Muse, sich namentlich hier in Epigrammen bewährt, ließ
sich erwarten. —
So hat der Dichter die lebenden Zeugnisse seines Talentes um
eine höchst ansprechende Gabe vermehrt, und wir wünschen ihm von
Herzen, daß, uns zur Freude und zum dankbaren Genüsse, nach seinen
eignen Werten dies „Geschaffene wieder zeuge."
Bliithen der Nacht. Lieder und Dichtungen von Amara
j George. Eingeführt durch Alexander Kaufmann. Leipzig. F. A. Brock-
j Haus. 1856.
Gedichte. Bon Carl Siebet. Leipzig, Otto Wiegand. 1856.
Wenn Amara George Seite 38 dichtet: „da holet' ich herbei die
Briefe mir" und Seite 50: „und streichet' ich mit leichter Hand," statt „holte"
und „streichle," während Carl Siebet singt: Seite 96: „die tändelen hin
und tändelen her" und Seite 99: „Und es trägt sie der Zephyr aufFlü-
gelen sacht" statt „tändeln" und „Flügeln"; so soll das hier nicht etwa her-
ausgehoben und zusammengestellt sein, um anzndenten, daß beide Poeten
gleichen Schlages seien. Amara George ist wenigstens mit dem, wenn
auch mißlungenen Streben nach Vermeidung des Hiatus zu entschuldigen;
Carl Siebet kann nicht einmal dies für sich anführen; bessere Verse hätten
aber Beide machen können!
In: Uebrigen sind unsere Dichterin und unser Dichter, nicht blos ge-
schlechtlich, auch an Geistesgaben und aesthetischem Naturell sehr verschieden.
Wir glauben zwar, daß Herr Kaufmann in seiner „Einführungsvor-
rede" sich von seinem pflegeväterlichen Eifer etwas zu weit hat führen las-
sen, wenn er (Seite VII.) die Begeisterung gewissermaaßen zu seiner eige-
nen macht, mit welcher sein Mitcurator Daumer von ihrer gemeinsamen
Mündel singt: