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Georg Fuchs:
Begabung. Betrachten wir nur das Fenster
für ein Bücherzimmer! Beim ersten An-
Zeichnung nach der Natur. Melchior lechter.
blicke können wir uns religiöser Empfin-
dungen, ja kirchlicher Erinnerungen kaum
erwehren. Die beiden Figuren, um deren
Häupter die Glorie erstrahlt, scheinen Heilige
zu sein: die zur Linken vielleicht eine heilige
Königstochter, St. Ursula? Der zur Rechten
vielleicht ein heiliger Sänger, der junge
David mit der Harfe? Nein! Sogleich ist
uns offenbar, dass wir vor den Symbolen
einer anderen Heiligung stehen. Die ge-
krönte Jungfrau trägt nicht das Schwert,
durch welches sie umkam, sondern die reiche
Blüthe, die sie von der sprossenden Erde
nahm, aus der sie mit sehnsüchtigem Zagen
den berauschenden Duft der irdischen Herr-
lichkeit in sich aufnimmt. Der Jüngling,
den die Frühlingsdüfte mit holder Schwer-
muth erfüllen, zaudert die zuckende Hand
in die goldenen Saiten zu legen. Es ist
ihm alles so neu und so gross, er fand noch
kein Lied dafür. Darüber steigt kein Bogen
auf nach überirdischen Fernen deutend, kein
Kreuz und kein Symbol des heiligen Geistes:
in dichter, überdichter Fülle drängen sich
die funkelnden Blüthen. Darinnen lesen wir
die Schrift: »Schon glühst du und träumst,
schon trinkst du durstig an allen tiefen,
klingenden Trostbrunnen, schon ruht deine
Schwermuth in der Seligkeit zukünftiger
Gesänge.« — Es ist ein Spruch Friedrich
Nietzsche's und dessen Glauben.
Die Glasmalerei ist längst nicht mehr
allein dem Schmucke der Kirchen oder öffent-
lichen Hallen vorbehalten. Allein sie wird
auch im Profanbau nur dann in Anwendung
gebracht, wenn einem Räume ein feierlicher
Karakter verliehen werden soll. Für die
allerprofansten Zwecke wählt man sie nicht,
eher noch Kunstverglasungen mit ameri-
kanischem opalisirendem Materiale. Stets
aber hat die Verwendung farbiger Fenster
die Voraussetzung, dass einem Räume zwar
Licht zugeführt werden, dass aber der Blick
nicht in die äussere Umgebung dringen soll,
entweder weil diese hässlich ist, oder weil
dem Räume eine besondere Bedeutung bei-
gelegt wird, der Blick beruhigt und zurück-
gedrängt, der Geist gesammelt werden will.
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich selbst-
verständlich die künstlerische Eigenthümlich-
keit der Glasmalerei: das Visionäre. Sie
bildet keinen festen Abschluss, indem das
Licht durch sie hereinfluthen soll. Desshalb
Georg Fuchs:
Begabung. Betrachten wir nur das Fenster
für ein Bücherzimmer! Beim ersten An-
Zeichnung nach der Natur. Melchior lechter.
blicke können wir uns religiöser Empfin-
dungen, ja kirchlicher Erinnerungen kaum
erwehren. Die beiden Figuren, um deren
Häupter die Glorie erstrahlt, scheinen Heilige
zu sein: die zur Linken vielleicht eine heilige
Königstochter, St. Ursula? Der zur Rechten
vielleicht ein heiliger Sänger, der junge
David mit der Harfe? Nein! Sogleich ist
uns offenbar, dass wir vor den Symbolen
einer anderen Heiligung stehen. Die ge-
krönte Jungfrau trägt nicht das Schwert,
durch welches sie umkam, sondern die reiche
Blüthe, die sie von der sprossenden Erde
nahm, aus der sie mit sehnsüchtigem Zagen
den berauschenden Duft der irdischen Herr-
lichkeit in sich aufnimmt. Der Jüngling,
den die Frühlingsdüfte mit holder Schwer-
muth erfüllen, zaudert die zuckende Hand
in die goldenen Saiten zu legen. Es ist
ihm alles so neu und so gross, er fand noch
kein Lied dafür. Darüber steigt kein Bogen
auf nach überirdischen Fernen deutend, kein
Kreuz und kein Symbol des heiligen Geistes:
in dichter, überdichter Fülle drängen sich
die funkelnden Blüthen. Darinnen lesen wir
die Schrift: »Schon glühst du und träumst,
schon trinkst du durstig an allen tiefen,
klingenden Trostbrunnen, schon ruht deine
Schwermuth in der Seligkeit zukünftiger
Gesänge.« — Es ist ein Spruch Friedrich
Nietzsche's und dessen Glauben.
Die Glasmalerei ist längst nicht mehr
allein dem Schmucke der Kirchen oder öffent-
lichen Hallen vorbehalten. Allein sie wird
auch im Profanbau nur dann in Anwendung
gebracht, wenn einem Räume ein feierlicher
Karakter verliehen werden soll. Für die
allerprofansten Zwecke wählt man sie nicht,
eher noch Kunstverglasungen mit ameri-
kanischem opalisirendem Materiale. Stets
aber hat die Verwendung farbiger Fenster
die Voraussetzung, dass einem Räume zwar
Licht zugeführt werden, dass aber der Blick
nicht in die äussere Umgebung dringen soll,
entweder weil diese hässlich ist, oder weil
dem Räume eine besondere Bedeutung bei-
gelegt wird, der Blick beruhigt und zurück-
gedrängt, der Geist gesammelt werden will.
Aus diesen Bestimmungen ergibt sich selbst-
verständlich die künstlerische Eigenthümlich-
keit der Glasmalerei: das Visionäre. Sie
bildet keinen festen Abschluss, indem das
Licht durch sie hereinfluthen soll. Desshalb