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Ein geistiges Intervall setzt ein, und zwar nicht nur für die Malerei, sondern
in allen Dingen. Mit dem beliebten Natürlichen war es zu Ende, diesem Rendez-
vous bequemer und abgenutzter Übereinkünfte; der optimistische Realismus war
eben doch im großen ganzen Laschheit gewesen, ein lässiges oder ergebenes
Sichgehenlassen. Denn Naturmalerei ist allermeist Schmeichelei oder Affront
gegen die Natur; denn das Kunstwerk ist die rarste Ausnahme in den Künsten.
Picasso vertraut seinen Wachträumen, die fern von den Regeln des Tages
und abseits der gewohnten Gestaltung aufsteigen, eine Last ängstlicher und
geschichtlicher Hemmungen wird abgeschüttelt.
Man unterscheide das langweilige Geträume des Unbegabten von wachem
Hellsehen, das den Menschen zu Neugestaltung vortreibt, doch mitunter
gleichzeitig ihn in vergessene, alte Schichten sendet. Man isoliert sich gegen die
gewohnten Objektzusammenhänge, ein Stadium, das durch Pessimismus, ver-
bunden mit heimlichem Humor, charakterisiert ist. Feindlich wird man die
Objekte, Träger der Übereinkünfte, zerstören, mählich wird eine grausame
Gleichgültigkeit gegen die Umwelt den Menschen beherrschen, bis er wagt,
die Grenzen des vererbten Bewußtseins endlich zu überschreiten, und gleich-
gültig gegen Beweisbarkeit in eigenem Mythos lebt.
Die Träume des Gewöhnlichen schwanken zwischen Angst und Gier. Der
Talentlose träumt konservativ äffisch, ein Kopist des banalen Tages. Er däm-
mert in den schattenhaften Minderungen des Daseins. Der Begabte überspringt
im Traum die Bindungen des Wirklichen, dieser Summe unserer Vorurteile.
Dadurch wird der Traum wieder Werkzeug der Weissagung, ob in Gedichten
oder Bildern. Man entzieht sich den Fetischismen einer verstorbenen Gegen-
wart und wagt Gestaltung, die später die Tagesnatur verjüngt und verwandelt.
Die Träume des Begabten in gefährlicher Loslösung und tiefer Wirrnis, um in
heller Präzision und franker Schamlosigkeit sich zu fixieren.
Manche Zeichnungen Picassos verraten solches Sichfallenlassen in die
Gruben der Ahnung; man streift die Hemmungen engenden Bewußtseins oder
kleinen Wollens ab; denn die Überlegung bezieht sich zumeist auf fertige Zu-
stände und Übereinkünfte. Der Weg zum Neuen geht durch das hailuzinative
Intervall; Technik des Sprungs. Die handwerkliche Hemmung wird vorurteils-
los beseitigt; die meisten Bilder wimmeln j a von überflüssigem Geschwätz und
Eitelkeit des Handwerks. Man müßte die Geschichte der malerischen Phrasen
und der servilen Sophistik des Handwerks schreiben. Endlich mußte man aus
der gerissenen Variante sich retten.
Vielleicht kann man den Genialen dermaßen definieren: er ist der am
stärksten Besessene, der isolierte Träumer, der jedoch in seinem Traum nicht
wiederholt, sondern das Wirkliche und die Übereinkünfte zerstört, doch neue
Mythe und Wirklichkeit bildet. Gleichzeitig muß er die Halluzination ohne allzu
enttäuschende Verluste in Wissen umsetzen, so daß leidende Besessenheit zu
zwingender Form tätig verwandelt wird. Wir zeichnen hiermit den revolutio-
nären Typus im Gegensatz zu den Vollendern, welche die zaghaften Leistungen

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