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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0045
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des Tityos entwickelt worden sei38. De Tolnay39
hingegen hielt die sogenannte Christus-Figur fur
ein Derivat des Tityos. Letzterer sei in UmriB und
Modellierung sehr fein ausgearbeitet, wahrend die
Figur der Ruckseite grobe Umrisse aufweise, die
ziemlich typisch fiir einen ricalco seien. Alexander
Perrig fand dieselbe Abhangigkeit, erkannte aber
in den Skizzen der Ruckseite die unbeholfene Fland
des Tommaso de’Cavalieri, der von Michelangelos
Tityos in seinem eigenen Zeichenversuch „sehr freien
Gebrauch gemacht” habe40.

Perrigs Hypothese zielt darauf, dab es fiir die
Zeichnungen mythologischer Themen, die Miche-
langelo um 1533 dem jungen rómischen Adligen
Tommaso de Cavalieri schenkte, den Raub des
Ganymed, die Bestrafung des Tityos, den Sturz des
Phaethon und wohl auch das sogenannte Kinderbac-
chanal, einen bestimmten pragmatischen Rahmen
gegeben habe. Was immer moderne Autoren in die
Beziehung des alteren Kiinstlers zu dem jungen
adligen Cavalieri hineinlegten41: Er war sein — wenn
auch dilettierender und gerade nicht professionel-
ler — Zeichenschiiler. Cavalieri wenigstens scheint in
den gezeichneten Mythologien keine allzu private
Botschaften wahrgenommen zu haben. Denn der
Beschenkte yerhinderte nicht oder beforderte sogar,
sie offentlich werden zu lassen, wovon ihr rascher
Ruhm und ihre Verbreitung in druckgraphischen
Reproduktionen zeugen. Laut David Rosand lieferte
Michelangelo dem Schuler (und der kunstinteressier-
ten rómischen Offentlichkeit) zuallererst Beispiele
des „buon disegno”, der kunstvollen Einheit von
Bilderfindung und zeichnerischer Realisierung42.
In Perrigs Verstandnis tauschten sich Lehrer und
Schuler mittels Zeichnungen iiber die Zeichenkunst
aus. Nicht immer sei dabei die Wahl des Themas von
Michelangelo ausgegangen. Wenigstens beim Raub
des Ganymed'43 habe der Meister auf eine Yorgabe

38 F. Hartt, The Draiuings of Michelangelo, London 1971,
S. 139, Nr. 184, u. S. 249L, Nr. 353: „The pose of Tityus, tur-
ned on end, was traced by Michelangelo from the Resurrected
Christ on the verso”.

39 De Tolnay (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 110, Nr. 345ver-
so; diesem Verstandnis folgt ohne Erorterung von Griinden
P. Joannides, Michelangelo and His Influence. Draiuings from
Windsor Castle, London 1996, S. 64-67, Nr. 12a/b. De Tolnay
deutet die spiegelverkehrte Wiederholung der Tityos-Umrisse
in der Figur des Auferstehenden ais Verwandlung der Qual
des Liebenden in Erlósung. Vgl. de Tolnay, Michelangelo, V
(wie Anm. 25), S. 175: „Since the Tityos is a symbol for the
tormented lover, the representation of a Risen Christ in almost
the same attitude on the back of the same sheet may be meant
as a symbol of the liberation and rebirth of the lover”.

Jfc’

6. Michelangelo, Figurenskizzen fiir eine Auferstehung, schwarze
Kreide, Passepartoutausschnitt: 14,9 X 25,2 cm.
Windsor Castle, Royal Library, Inv. 12771verso
(Reproduktion: de Tolnay, Corpus dei disegni..., Bd. 2)

40 A. Perrig, Michelangelo’s Draiuings. The Science of Attri-
bution, New Haven—London 1991, S. 44.

41 Ganz ausgeschlossen indessen, daB sich Michelan-
gelo mit dem jugendlichen Leichtsinn des Phaethon iden-
tifiziert haben sollte. Vgl. H. Chapman, Michelange-
lo Draiuings: Closer to the Master, London 2005, S. 226f.

42 D. Rosand, Drawing Acts. Studies in Graphic Expression
and Representation, Cambridge 2002, S. 185. Vasari riihmt Mi-
chelangelo ais den Meister aller Aspekte des buon disegno.

43 Ais Original gilt die Zeichnung in Cambridge (Mass.),
Fogg Art Museum, Inv. 1955.75, schwarze Kreide, 36,1 X
27,5 cm; vgl. de Tolnay (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 109f., Nr.
344recto; A. Perrig, in: E.-G. Giise, A. Perrig (Hrsg.), Zeich-
nungen aus der Toskana. Das Zeitalter Michelangelos, Miinchen—
New York 1997, S. 13lf., Nr. 33.

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