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VI

schiedenen Zeichen, das eine, Herzog Heinrich der Fromme (Nr. 1915),
mit einer Schlange mit stehenden Fledermausflügeln, das andere, die
Tochter der Herodias vor ihren Eltern (Nr. 1923), mit einer Schlange
mit liegenden Vogelflügeln. Das fiel mir auf. Da der Galeriekatalog
über die Verschiedenheit der Zeichen nichts sagte, glaubte ich, hier
sei ein Problem vorhanden, an das noch niemand gedacht hätte, und
.es reizte mich plötzlich, dies Problem zu lösen. Dass sich Scheibler
schon damit beschäftigt hatte, wusste ich damals noch nicht. Auf einer
grossen Reise durch Süddeutschland im Sommer 1893, auf der ich eine
Menge cranachscher Bilder kennen lernte, ordnete ich die mit einer
Jahreszahl versehenen und bezeichneten chronologisch nach den beiden
verschiedenen Zeichen und kam so zu demselben Ergebnis wie Scheibler:
dass im Jahre 1537 die Schlange mit Fledermausflügeln von Cranach
zum letzten Male angewandt worden und noch in demselben Jahre die
mit Vogelflügeln an ihre Stelle getreten sei.

Mit dieser Thatsache konnte ich mich jedoch nicht zufrieden geben.
Ganz von selbst stellte sich nun die Frage ein, die merkwürdigerweise
noch niemand aufgeworfen hatte: Warum hat denn der Künstler 1537
sein bekanntes Zeichen geändert? Irgend ein Grund oder eine Ursache
musste doch dafür vorhanden sein. Da fand ich denn im Leben
Cranachs im Jahre 1537 nur ein bemerkenswertes Ereignis: seine Wahl
zum Bürgermeister von Wittenberg. Damit war nun freilich nichts
anzufangen. Aber als ich weiter suchte und dabei auf die ältesten
Quellen zurückging, fand ich etwas, das in keiner der neueren Lebens-
beschreibungen stand: dass um dieselbe Zeit innerhalb des Jahres 1537,
wo das alte Zeichen verschwindet und das neue auftritt, des Meisters
ältester Sohn Hans nach Italien gegangen und dort bald darauf gestorben
sei. Hier schien die Lösung des Rätsels zu liegen. Die unmittelbare
Folge dieser Entdeckung war, dass ich mich mit Hans Cranach zu
beschäftigen begann. Ich las sofort das lateinische Trauergedicht
Stigels, nicht in der Verstümmelung Schuchardts, sondern unverkürzt
in einer der alten xAusgaben der Stigelschen Gedichte, und übersetzte
es dann. Da stand es denn mit aller wünschenswerten Deutlichkeit,
dass Hans Cranach ein hervorragender Künstler gewesen sei und eine
reiche Thätigkeit entfaltet habe. Zwischen den Zeilen aber war zu
lesen, dass die vielen Werke, die er in der Werkstatt seines Vaters
geschaffen habe, nicht unter seinem eigenen Namen, sondern unter dem
Lucas Cranachs in die wyeite Welt gegangen waren. Wollten wir also
 
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