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lerische Phantasie in einem kleinen Holzschnitte nicht ebenso stark
äussern könnte, wie in einem grossen Tafelbilde! Die grosse Menge
kennt diese Holzschnitte Cranachs kaum, und wie viele Kunstforscher
giebt es, von denen nicht dasselbe gesagt werden müsste? In seinen
Bildern lebt Lucas Cranach fort, nicht in seinen Holzschnitten.

Jenen etwa 20 uns bekannten Bildern, die Cranach bis zu seinem
50. Jahre gemalt hat, stehen nun etwa 300 gegenüber, die jenseits dieses
Jahres fallen, zwar nicht alles Werke seiner Hand, aber doch alle aus
seiner Werkstatt hervorgegangen. Das ist ein Missverhältnis, wie es kaum
grösser gedacht werden kann. Und es ist gekommen, wie es kommen
musste: die 300 Bilder, die den Lebensabend Cranachs ausfüllen, haben
die 20 seiner besten Zeit unterdrückt. Der alternde Lucas Cranach

lebt, der werdende und der gewordene ist tot.

Es giebt keinen andern Künstler, dem ein solches Schicksal je
widerfahren wäre.

Und die Forschung? Hat sie nicht versucht, dieses Unrecht, das
dem Künstler angethan ist, wieder gut zu machen?

Die ältere Generation hat überhaupt gar nicht geahnt, dass hier
etwas gut zu machen sei. Auch Christian Schuchardt, der sich sein
Leben lang mit Lucas Cranach beschäftigt hat, hat nur den alternden
Künstler so recht gekannt, er hat nicht gewusst und sich wohl auch
nie ernstlich gefragt, in welcher Weise aus dem 30jährigen allmählich
ein 40 und 5ojähriger geworden ist. Von den Bildern, die er kannte,
hat er den Weg nicht zurückgefunden zu jenen wenigen Zeugnissen einer
früheren Zeit.

Gewiss ist die jüngere Generation in der Hinsicht etwas weiter
fortgeschritten als Schuchardt. Aber eine Biographie des Künstlers
Cranach, also eine, die auf die Entwickelung seines persönlichen Stils
das Hauptgewicht legt, giebt es noch immer nicht und kann es nicht
geben. Wer heute das Wagnis unternehmen wollte, befände sich etwa
in der Lage dessen, der ein festes Haus bauen will und zwar eine
Menge Holz zum Dachstuhl, aber keine Steine und keinen Mörtel zum
Bau der Mauern hat. Man hat der früheren Thätigkeit Cranachs allmählich
etwas mehr Aufmerksamkeit zugewandt, sich aber sonst mit dem begnügt, was
da war. Es ist überhaupt ein eigenes Ding mit dieser jüngeren Forschung.
Sie, die sonst so kritisch angelegt ist, hat Cranach gegenüber auf die
Kritik ganz verzichtet. Entweder ist er ihr zu berühmt; sie findet, dass
er nicht das gewesen, was seine Zeitgenossen und die Nachwelt aus ihm
 
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