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Ganz, David
Barocke Bilderbauten: Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen 1580 - 1700 — Petersberg, 2003

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https://doi.org/10.11588/diglit.13166#0048

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ZWEITES KAPITEL

EIN VIELSTIMMIGER CHOR.

DIE RAHMENHANDLUNG UND IHRE FIKTIVEN BILDSCHÖPFER

Wie sollen die im ersten Kapitel erarbeiteten Resultate be-
wertet werden? Kontrastfolie meiner Analyse von Sant'An-
drea della Valle war das von der historischen Vitenlitera-
tur entworfene Bild der Künstlerkonkurrenz gewesen.
Vor diesem Hintergrund ist die systematische Abstim-
mung des Domenichino-Lanfranco-Projekts ein überra-
schendes Resultat. In diesem Kapitel möchte ich zeigen,
dass sich dieser Befund trotz mangelnder Rückendeckung
durch literarische Zeugnisse der Zeit historisch erhärten
lässt: Über die vergleichende Untersuchung einer größe-
ren Zahl von Objekten kann die Analyse der Betrachter-
vorgaben in die Rekonstruktion einer spezifischen Bild-
praxis münden. Die gleichen Merkmale des Bilderbaus,
die ich im ersten Kapitel an einem Freskenprogramm der
1620er Jahre aufgezeigt habe, lassen sich für viele andere
Haupträume römischer Kirchen vom späten Cinquecento
bis ins frühe Settecento hinein nachweisen.

Für eine solche verallgemeinernde, über den Einzelfall
hinausweisende Perspektive hat sich die kunsthistorische
Forschung seit längeren blind gemacht. Die meisten jün-
geren Untersuchungen sind einem genetischen Ansatz
verpflichtet, welcher seine Gegenstände aus einer Sonder-
konstellation einmalig geltender Umstände erklären
möchte: individuellen Interessen, Kompetenzen, Ver-
flechtungen der an der Entstehungsgeschichte beteiligten
„Köpfe" und „Hände".94 Folge ist, dass das Koordina-
tionspotential der Ensembles in Anteile zerbröckelt, in
denen die einzelnen Stimmen der materiellen Urheber
und ihrer Entourage direkten Niederschlag gefunden ha-
ben sollen. Die Aufmerksamkeit der Interpreten wurde so
von der Möglichkeit abgelenkt, dass die Bildensembles
über ihre Rezeptionsvorgaben schon selbst einen kom-
munikativen Rahmen um die verschiedenen Darstellun-
gen legen. In diesem kommunikativen Rahmen sind eige-
ne „Sprechrollen" fingiert, die den materiellen Urhebern
erst ihre Stimme leihen.

Die Analyse des letzten Kapitels hat mit der Unter-
scheidung von Beobachter* und Betrachter* bereits zwei
verschiedene „Ansprechpartner" ausfindig gemacht, wel-
che in diesem kommunikativen Rahmen vorgesehen sind.
Offen ist hingegen noch die Frage nach dem Gegenüber

dieser Rezipientenrollen, nachdem die Maler als autono-
me Autoren ausgeschieden sind. In diesem Kapitel möch-
te ich meine Aufmerksamkeit daher verstärkt den impli-
ziten „Sprechern" zuwenden, die als fiktive „Bildschöp-
fer" mit den verschiedenen Rezipientenrollen in Kontakt
treten. Die Befragung eines ganzen Bündels von Dekora-
tionen, das die gesamte Zeitspanne zwischen tarda manie-
ra und tardo barocco umfasst, wird Aufschluss geben über
allgemeine Merkmale des kommunikativen Rahmens. Der
kommunikative Rahmen, so meine Fhese, lag der indivi-
duellen Genese einzelner Bilderbauten voraus und konn-
te ihnen eine von Fall zu Fall immer wieder neu reprodu-
zierte Struktur aufprägen.

2.1. Arazzi finti und Rahmenputten.
San Girolamo degli Schiavoni/1

Mein erstes Beispiel ist zeitlich das früheste und kunsthis-
torisch das unbekannteste: die bisher eher einem Spezia-
listenkreis vertraute Kirche San Girolamo degli Schiavoni,
deren Bilddekoration in den Jahren 1589-91 entstand. Wie
der Beiname andeutet, handelt es sich um eine der zahl-
reichen Nationalkirchen in Rom, an welche die Congrega-
tione degli Illirici als Institut für die Angehörigen kroati-
scher, slowenischer und dalmatischer Nationalität ange-
gliedert war.

Zunächst einige Bemerkungen zum Entstehungszu-
sammenhang. Die Fresken in San Girolamo sind Teil jener
kaum zu überschauenden Ausmalungskampagnen, die
Sixtus V. alias Feiice Peretti (Groß- bzw. Urgroßonkel der
in Sant'Andrea engagierten Protettori), in der kurzen Zeit
seines Pontifikats mit Hochdruck vorantrieb. Binnen ge-
rade einmal 5 Jahren gelang es ihm, den römischen Stadt-
raum in eine Bilderlandschaft weitläufiger Freskenzyklen
zu verwandeln, welche vornehmlich die nicht minder
zahlreichen Neubauten des Papstes auskleideten: Die
Bibliothek des Vatikanspalasts, die Scala Santa und die Be-
nediktionsloggia des Laterans, die Gemächer des Late-
ranspalastes selbst, die Reliquien- und Grabkapelle in
Santa Maria Maggiore und viele andere Orte mehr.93 Die
schiere Masse ausgedehnter Bildprogramme lässt im

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