Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
,röße

NATURALISMUS UND MODERNE KUNST.

ZU DEN GRAPHISCHEN'BLATTERN VON ELFRIEDE UND ERICH MILLER-
HAUENFELS.

Das Kunstschaffen unserer Epoche wird ohne Zweifel einmal, sagen wir in fünfzig Jahren,
aus historischer Distanz gesehen, einheitlicher und geschlossener wirken als jetzt; manche gemein-
same Züge, die uns, den Betrachtern aus nächster Nähe, ganz oder teilweise entgehen, werden zu
größerer Wirkung gelangen, andere, kontrastierende, werden zurücktreten. Gleichwohl läßt sich
auch heute schon füglich behaupten, daß es noch niemals eine Zeit gegeben hat, die eine so bunt-
scheckige Musterkarte von gegensätzlichen Auffassungen, von einander widerstrebenden An-
schauungs- und Darstellungsweisen geboten hätte, wie die gegenwärtige. Alle Gründe hiefür auf-
zuzählen, würde uns zu weit führen. Es sei nur auf einen, nach unserem Dafürhalten den wichtigsten,
hingewiesen: auf die Vielfältigkeit und Verschiedenheit der Einflüsse, Anregungen und Vorbilder,
die heute, im Gegensatz zu früher, auf jedes in der Entwicklung begriffene Talent einwirken. Im
Laufe des letzten Halbjahrhunderts hat sich das Ausstellungs- und Museumswesen in einem bis dahin
ungeahnten Grade entwickelt und verbreitet; die mechanischen Reproduktionsverfahren haben eine
außerordentliche Höhe erreicht und im Zusammenhange damit ist die Kunstliteraturjeglicher Gattung
ins Unübersehbare angewachsen. Um sich einen Begriff von dem Unterschied zwischen damals und
heute zu machen, nehme man nur eine der in den sechziger oder siebziger Jahren verbreiteten
illustrierten Kunstgeschichten zur Hand; etwa den alten Lübke, mit den spärlichen in jeder Beziehung
ungenügenden Holzschnitten, die gelegentlich einen Correggio oder Rubens in Umrißzeichnung
wiedergeben! Man vergleiche damit, was heute auf diesem Gebiet geleistet wird, von' den mit
Faksimiledrucken ausgestatteten Prachtwerken bis zu den illustrierten Katalogen und Ansichtskarten
herab! Man mache sich klar, wie viele Galerien, Museen, öffentliche Ausstellungen, Kunstsalons,
Antiquitätenhandlungen, Versteigerungen ihre Besucher, wie viele Führungen von Fachleuten, Vor-
träge mit Lichtbildern, Kunstschriften und dergleichen ihr Publikum finden, während Ähnliches vor
fünfzig Jahren entweder nur in sehr beschränktem Maße oder überhaupt nicht existierte. Alles dies hat
zur Folge, daß der gegenwärtigen Generation von aufstrebenden Talenten das Kunstschaffen der
Gegenwart wie der fernsten Vergangenheit, der Heimat wie der entlegensten Völker in zahllosen
Beispielen, teils Originalen, teils vollendeten Wiedergaben, beständig und bei allen möglichen
Anlässen vor Augen geführt wird. Dazu kommt das Gefühl, daß die moderne Kunst seit dem
Impressionismus auf einem toten Punkt angelangt ist und man entweder etwas ganz Neues bieten
oder irgendwo an die Vergangenheit — womöglich an die am weitesten zurückliegende! — an-
knüpfen müsse. Das erstere führt zum völligen Bruch mit jeder Überlieferung und zu so sterilen,
mathematisch-mystischen, abstrakten Spielereien, wie es der Futurismus, der Kubismus, der Dadais-
mus sind; das zweite zur mehr oder minder deutlichen Stilkopie: prähistorische Zeichnungen von

65
 
Annotationen