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Jürgen Blänsdorf
Schwierigkeiten mit dem Glück
Glücksdefinition einmal auf die kürzeste Formel: „Denn Glück ist ein Tun“.2 Dort
aber, wo er dieses Tun selbst genauer bestimmt, spricht er nicht so modern klingend
von der „optimalen Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten“, sondern von einer
„Betätigung der Seele gemäß der Tugend.“3 Wenn im folgenden mehrere Male der
griechische Begriff αρετή und der gleichwertige lateinische Begriff virtus mit dem
heute schon altertümlich klingenden Begriff „Tugend“ übersetzt wird, so ist damit
nicht eine Art braver Gesittung gemeint, sondern eine auf den Mitmenschen, die Ge-
sellschaft und den Staat gerichtete Gesinnung und Tätigkeit, wie wir sie auch unter
Gerechtigkeit, Mut, Toleranz oder als Sozialtugend zu verstehen pflegen, nichts ver-
schwommen Moralisches also, sondern eine sich erst in der Aktivität bewährende
Wertorientierung. - Grundlage des Glücks ist also nach Aristoteles nicht irgendeine
geistige Tätigkeit an sich, sondern eine ethisch bestimmte. Dass Glück nichts Ge-
schenktes ist, sondern einem Tun, und zwar einem ethischen entspringt, trifft auch
noch für Seneca zu. Ab diesem Punkte, nämlich dem Wirken oder Fehlen des ethischen
Fundaments des Glücks, trennt sich nicht nur der moderne Wissenschaftler vom anti-
ken Philosophen, sondern beginnt für letzteren auch die Frage nach dem Verfehlen des
Glücks, die dem Erkenntnisoptimismus der modernen Wissenschaft fern liegt. Denn
die Rede von einer „Glücksformel“ (S. Klein) postuliert ja die Machbarkeit eines so
definierten Glücks und nimmt die Möglichkeit gar nicht in den Blick, dass es verfehlt
werden, ja dass es selbst zum Problem werden kann.
Genau aber diese immanente Gefährdung des Glücks durch Verfehlen seiner wichtigs-
ten Voraussetzung, seiner ethischen Verankerung, wurde zum Thema der nacharistote-
lischen Philosophie. Um die Entwicklung der Glückstheorien in den verschiedenen
philosophischen Richtungen bis zur Spätantike zu verstehen, ist es unerlässlich, eine
wichtige Unterscheidung ins Gedächtnis zu rufen, die schon in der von Stefan Klein
missbilligend zitierten Glücksdefinition Schopenhauers: „Glück ist nur die Abwesen-
heit von Schmerz“ vernachlässigt wurde, die Unterscheidung zwischen Glück -
ευδαιμονία - und Lust - ήδονή. Denn Lust als Gegenteil von Unlust oder Schmerz ist
zwar notwendige Voraussetzung des Glücks, aber sie beruht auf einer körperlichen
oder seelischen Empfindung, ist jedoch nicht ethisch bestimmbar und daher nicht mit
dem ethisch fundierten Glück identisch. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung ist
ohne weiteres darin evident, dass wir uns eine Lust ohne Glück leicht vorstellen oder
2 Aristot., Pol. 1325 a 32: ή γάρ ευδαιμονία πράξις· έστιν; EE 1, 1217 a39: δήλον ότι και την
ευδαιμονίαν τω άνθρώπω πρακτών αριστον θετέον; ΜΜ 1,4, 1184 β32: έν χρήσει τοίνυν
τιν'ι άν εϊη και ένεργεία ή ευδαιμονία. Aber auch an dieser Stelle fährt Aristoteles fort: ή
ευδαιμονία άρ’ αν εϊη έν τω κατά τάς· άρετάς· ζην.
3 Aristot., ΕΕ 1219 a 38: εϊη δ’ άν ή ευδαιμονία ζωής· τελείας· ενέργεια κατ’ άρετήν τελείαν;
ΕΝ 1, 1097 b20: τέλειον δή τι φαίνεται καί αυτάρκες· ή εύδαμονία των πρακτών οΰσα
τέλος·; ΕΝ 1, 1098 a 16: τό άνθρώπινον αγαθόν ψυχής- ένέργεια γίνεται κατ’ άρετήν; ΕΝ
1125 b35 : έστιν άρα ή ευδαιμονία ψυχής· αγαθής· ένέργεια; ΕΝ 10,6, 1177 a9: ού γάρ έν
ταϊς· τοιαύταις· διαγωγαϊς· (nämlich παιδιά, σωματικοί ήδοναί) ή ευδαιμονία, άλλ’ έν ταϊς·
κατ’ άρετήν ένεργείαις·; Pol. 8, 1328 a37: έστιν ευδαιμονία αριστον, αϋτη δέ αρετής·
ένέργεια και χρήσις· τις· τέλεια; Rhet. 1,5, 1360 bl4: έστω δή ευδαιμονία εύπραξία μετ’
αρετής·.
Jürgen Blänsdorf
Schwierigkeiten mit dem Glück
Glücksdefinition einmal auf die kürzeste Formel: „Denn Glück ist ein Tun“.2 Dort
aber, wo er dieses Tun selbst genauer bestimmt, spricht er nicht so modern klingend
von der „optimalen Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten“, sondern von einer
„Betätigung der Seele gemäß der Tugend.“3 Wenn im folgenden mehrere Male der
griechische Begriff αρετή und der gleichwertige lateinische Begriff virtus mit dem
heute schon altertümlich klingenden Begriff „Tugend“ übersetzt wird, so ist damit
nicht eine Art braver Gesittung gemeint, sondern eine auf den Mitmenschen, die Ge-
sellschaft und den Staat gerichtete Gesinnung und Tätigkeit, wie wir sie auch unter
Gerechtigkeit, Mut, Toleranz oder als Sozialtugend zu verstehen pflegen, nichts ver-
schwommen Moralisches also, sondern eine sich erst in der Aktivität bewährende
Wertorientierung. - Grundlage des Glücks ist also nach Aristoteles nicht irgendeine
geistige Tätigkeit an sich, sondern eine ethisch bestimmte. Dass Glück nichts Ge-
schenktes ist, sondern einem Tun, und zwar einem ethischen entspringt, trifft auch
noch für Seneca zu. Ab diesem Punkte, nämlich dem Wirken oder Fehlen des ethischen
Fundaments des Glücks, trennt sich nicht nur der moderne Wissenschaftler vom anti-
ken Philosophen, sondern beginnt für letzteren auch die Frage nach dem Verfehlen des
Glücks, die dem Erkenntnisoptimismus der modernen Wissenschaft fern liegt. Denn
die Rede von einer „Glücksformel“ (S. Klein) postuliert ja die Machbarkeit eines so
definierten Glücks und nimmt die Möglichkeit gar nicht in den Blick, dass es verfehlt
werden, ja dass es selbst zum Problem werden kann.
Genau aber diese immanente Gefährdung des Glücks durch Verfehlen seiner wichtigs-
ten Voraussetzung, seiner ethischen Verankerung, wurde zum Thema der nacharistote-
lischen Philosophie. Um die Entwicklung der Glückstheorien in den verschiedenen
philosophischen Richtungen bis zur Spätantike zu verstehen, ist es unerlässlich, eine
wichtige Unterscheidung ins Gedächtnis zu rufen, die schon in der von Stefan Klein
missbilligend zitierten Glücksdefinition Schopenhauers: „Glück ist nur die Abwesen-
heit von Schmerz“ vernachlässigt wurde, die Unterscheidung zwischen Glück -
ευδαιμονία - und Lust - ήδονή. Denn Lust als Gegenteil von Unlust oder Schmerz ist
zwar notwendige Voraussetzung des Glücks, aber sie beruht auf einer körperlichen
oder seelischen Empfindung, ist jedoch nicht ethisch bestimmbar und daher nicht mit
dem ethisch fundierten Glück identisch. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung ist
ohne weiteres darin evident, dass wir uns eine Lust ohne Glück leicht vorstellen oder
2 Aristot., Pol. 1325 a 32: ή γάρ ευδαιμονία πράξις· έστιν; EE 1, 1217 a39: δήλον ότι και την
ευδαιμονίαν τω άνθρώπω πρακτών αριστον θετέον; ΜΜ 1,4, 1184 β32: έν χρήσει τοίνυν
τιν'ι άν εϊη και ένεργεία ή ευδαιμονία. Aber auch an dieser Stelle fährt Aristoteles fort: ή
ευδαιμονία άρ’ αν εϊη έν τω κατά τάς· άρετάς· ζην.
3 Aristot., ΕΕ 1219 a 38: εϊη δ’ άν ή ευδαιμονία ζωής· τελείας· ενέργεια κατ’ άρετήν τελείαν;
ΕΝ 1, 1097 b20: τέλειον δή τι φαίνεται καί αυτάρκες· ή εύδαμονία των πρακτών οΰσα
τέλος·; ΕΝ 1, 1098 a 16: τό άνθρώπινον αγαθόν ψυχής- ένέργεια γίνεται κατ’ άρετήν; ΕΝ
1125 b35 : έστιν άρα ή ευδαιμονία ψυχής· αγαθής· ένέργεια; ΕΝ 10,6, 1177 a9: ού γάρ έν
ταϊς· τοιαύταις· διαγωγαϊς· (nämlich παιδιά, σωματικοί ήδοναί) ή ευδαιμονία, άλλ’ έν ταϊς·
κατ’ άρετήν ένεργείαις·; Pol. 8, 1328 a37: έστιν ευδαιμονία αριστον, αϋτη δέ αρετής·
ένέργεια και χρήσις· τις· τέλεια; Rhet. 1,5, 1360 bl4: έστω δή ευδαιμονία εύπραξία μετ’
αρετής·.