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Götz, Rolf
Die Sibylle von der Teck: die Sage und ihre Wurzeln im Sibyllenmythos — Kirchheim unter Teck, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.16141#0101
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und Silber im Boden zu finden hoffte, am Höhlen-
eingang einen Schacht gegraben - er hätte wohl im-
mer tiefer gegraben, wenn ihm nicht der „Erzher-
zog von Austria" (seit 1343 gehörte die Herrschaft
Schelklingen zu Österreich) das Schatzgraben ver-
boten hätte. Aus der Größe der Höhle schließt
Fabri186,

daß diese Höhle die Wohnstatt war eines ungeheuerlichen
Cyclopen oder großmächtigen Riesen, oder daß dort war
ein Versammlungsort der Nymphen oder der Musen,
worin sie mit nächtlichen Gesängen ihre fröhlichen Fe-
ste feierten. Es heißt nämlich jener Fels mit der Höhle
Singrenstein, vielleicht davon, daß der Cyclop oder Rie-
se den Namen Singrenus hatte, gleichsam Stein des
Singrenus; vielleicht auch von dem Kraut „ingrien" (d.h.
Immergrün) genannt, das eben dort neben dem Felsen
wächst. Eine ähnliche Höhle, so liest man, hatte jener
Cyclop, den Odysseus blendete, und auch der Riese Eris
oder Erihellus.

In freier Abwandlung zweier Verwandlungssagen
aus den „Metamorphosen" des römischen Dichters
Ovid erzählt Fabri, wie die Musen, die Töchter des
Jupiter und der Memoria, Grotten aufgesucht hät-
ten, um den schönen Widerhall zum Singen auszu-
nützen, und wie sie dem Apoll gesungen und mu-
siziert hätten, wenn er die Leier schlug. All dies
hätte ein Ende gefunden, als der Riese Pyrthenäus,
ihr Feind, sie aufspürte und in der Höhle einsperr-
te, indem er vor den Eingang einen riesigen Stein

wälzte. Die Musen aber hätten sich in Elstern ver-
wandelt und hätten so fliehen können. Für Fabri ist
die Höhle bei Blaubeuren der Schauplatz des
Geschehens von Ovids Geschichte. Der Felsklotz sei
noch heutigen Tags zu sehen, ebenso das Loch, durch
das die Elstern geflohen seien: Seitdem ist dieses Ge-
schlecht der Vögel geschickt zu Weissagungen weit und
breit durch das Schwaben- und Alamannenland™7.

Schon der Nürtinger Höhlenforscher Hans Binder
hat 1963 erkannt, daß Fabris Erzählung mit denen
anderer humanistischer Gelehrter darin überein-
stimmt, daß sie mythische Gestalten der Antike ins
Schwabenland verpflanzen und die Beschreibung der
tatsächlichen Verhältnisse durch die phantastische Zu-
tat fast ganz überdecken^.

Liefert Fabris Erzählung vom „Cyclopen", den er
aus Homers „Odyssee" kannte, oder von den Mu-
sen, die ihm aus Ovids „Metamorphosen" bekannt
waren, nicht eine Parallele zur „Verpflanzung" der
aus Vergils „Aeneis" geläufigen Sibylle in die Grotte
unterhalb der Teck? Fabris in Latein geschriebene
Landeskunde Schwabens ist erst zu Beginn des 17.
Jahrhunderts gedruckt worden und war wohl nur
in Gelehrtenkreisen bekannt. Wäre seine Landes-
kunde früher und in einer volkstümlicheren Ausga-
be erschienen, dann hätte sich vielleicht um die Sir-
gensteinhöhle eine Sage von den Untaten eines Rie-
sen gebildet.

186 Veesenmayer (wie Anm. 185), S.188-190. Übersetzung von E. Imhof (damaliger Leiter des Blaubeurer Progymnasiums): Die Fabel vom
Singrenstein, in: Blaubeurer Heimatbuch, hg. v. E. Imhof, 1950, S. 41 f.

187 „Metamorphosen", 5. Buch, V. 274 ff, in: Ovids Werke in 2 Bänden. 1. Band: Verwandlungen (= Bibliothek der Antike), Berlin und Wei-
mar 1992, S. 116 f. Fabri verknüpft zwei getrennte Erzählungen, nämlich die von dem „grausen Thrakerkönig Pyreneus", der die Musen
in ein Haus lockt und sie dort einschließt (ihm entkommen sie „mit Flügeln"), mit der Geschichte vom Wettstreit der 9 Musen mit den
9 Töchtern des Königs Pieros, bei dem die Pieriden zur Strafe für ihre Vermessenheit in Elstern verwandelt werden. Diese von Ovid er-
zählten Verwandlungssagen verbindet Fabri zudem mit der aus dem 9. Gesang der „Odyssee" bekannten Geschichte vom Kyklopen
Polyphem, der Odysseus und dessen Gefährten in seiner Höhle einsperrt, indem er einen gewaltigen Türstein vor den Eingang wälzt.

188 Hans Binder: Die Anschauungen über die Entstehung unserer Höhlen im Wandel der Zeiten, in: Vom Wasser und von den Höhlen der
mittleren Schwäbischen Alb (= Jahreshefte für Karst-und Höhlenkunde, 4. Jahresheft, 1963), S. 140.

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