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Götz, Rolf
Die Sibylle von der Teck: die Sage und ihre Wurzeln im Sibyllenmythos — Kirchheim unter Teck, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.16141#0103
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Eine „Spekulation" frühhumanistischer Gelehrter?

Die Verpflanzung mythischer Gestalten der Antike
ins Schwabenland läßt sich auch bei der Erklärung
schwäbischer Ortsnamen durch humanistische
Gelehrte beobachten. So sah der berühmte Huma-
nist Johannes Reuchlin (1455 - 1522), der aus Pforz-
heim stammte und seit 1481 in Tübingen lehrte, in
Phorkys, dem bei Homer genannten Anführer der
Phrygier vor Troja, den Gründer von Pforzheim und
erklärte sich so die besondere Aufgeschlossenheit
seiner Heimatstadt für die Gelehrsamkeit189.

Wie schnell zudem eine aus Frühdrucken entnom-
mene Geschichte als alte Überlieferung bezeichnet
werden konnte, beweist die angebliche „Sage" von
der Gründung Kirchheims bei einer Marienkirche,
die der heidnische Herzog von Weck nach seinem
Übertritt zum Christentum gestiftet habe. In Wirk-
lichkeit handelt es sich dabei um eine Lesefrucht aus
der 1486 in Ulm gedruckten Lirerschen Chronik.
Schon 1535 behaupteten die ältesten Einwohner der
Stadt Kirchheim, daß sie diese Geschichte von ih-
ren Eltern gehört bzw. vor vielen Jahren in alten
Chroniken oder „Historien" gelesen hätten190.

Vielleicht ist der 1531 erstmals belegte Name
„Sibyllenloch" ebenso erst wenige Jahrzehnte vor-
her geprägt worden, als humanistisch Gebildete aus
dem Ümfeld der Stadt Kirchheim oder humanisti-
sche Gelehrte - angeregt durch Vergils Erzählung
von der Sibylle von Cumae - in einer Art „gelehr-
ten Spekulation" den Gedanken in Umlauf brach-
ten, daß eine der antiken Sibyllen nach Schwaben
gekommen sei und in der Höhle unterhalb der Burg
Teck ihre Wirkungsstätte gehabt habe. Diese Vor-
stellung hat noch 1752 der württembergische Archi-
var Sattler so ausgedrückt: Wenn es in alter Zeit nur
eine einzige Sibylle gegeben habe, die aber in der Welt
herumgetrieben worden sei, so könne es wohl seyn, daß
sie in der Durchreyse aus Asien und Griechenland nach
Italien auch in Teutschland und in dieser Gegend sich
aufgehalten habe.

189 Vgl. die Gründungserzählung von Pforzheim, die im Anfang von Reuchlins „De verbo mirificio" (1494) zu finden ist (Faksimile-Neu-
druck, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 9 f). Vgl. Klaus Graf: „Aus krichsscher sprach in das swebischs teutschs gebracht. Bemerkungen zu
Reuchlins Patriotismus, in: Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit, hg. von Stefan Rhein (= Pforzheimer Reuchlinschriften 5),
Sigmaringen 1998, S. 205-224, hier S. 217 f.

190 Vgl. R. Götz: Sagenhaft, das Märchen über Kirchheims Gründung, in: Beiträge zur Heimatkunde des Bezirks Kirchheim unter Teck 23,
1976, S. 3 ff, sowie Graf, Kirchheimer Sagen (wie Anm. 1), S. 153 f.

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