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Götz, Rolf
Die Sibylle von der Teck: die Sage und ihre Wurzeln im Sibyllenmythos — Kirchheim unter Teck, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.16141#0105
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Der Name „Sibylle", wohl zunächst Eigenname ei-
ner bestimmten Seherin, wurde in der Folgezeit auf
andere Seherinnen übertragen und damit zum Gat-
tungsnamen. Als die ältesten Sibyllen im griechi-
schen Kleinasien galten die von Marpessos bzw.
Marmessos (bei Troja), die man später die
hellespontische Sibylle nannte, und die von Erythrai
(gegenüber der Insel Chios). Seit dem 5. Jahrhundert
v. Chr. verbreitete sich der Sibyllenkult über die
großgriechischen Kolonien im ganzen Mittelmeer-
raum. Als sich so die Zahl der Sibyllen erhöhte,
benannte man sie nach ihrer Herkunft oder Haupt-
kultstätte. Einige erhielten zusätzlich Eigennamen.
An der Überlieferung, daß die Sibylle weite Reisen
gemacht habe, läßt sich die Wanderung des
Sibyllenkults von Ost nach West ablesen. Grotten
hielt man für die Weissagungsorte der Sibyllen, und
immer brachte man sie mit dem Kult des Apollon
(auch Phoibos genannt) in Verbindung194, der ja ur-
sprünglich auch als unterirdischer Gott angesehen
wurde - nach Anschauung der Griechen sollen von
ihm die Seher die Gabe der Weissagung empfangen
haben.

Die römischen „Sibyllinischen Bücher"

Eine Seuche verschaffte in diesem Jahr (= 433 v. Chr.)
Ruhe vor anderen Behelligungen. Für die Gesundung des
Volkes wurde dem Apollo ein Tempel gelobt. Die
Duumvirn ergriffen nach Anweisung der „Bücher" viele
Maßnahmen, die den Zorn des Himmels besänftigen und
die Krankheit vom Volke abwenden sollten.

Diese von dem römischen Historiker Titus Livius
(59 v. Chr. - 17 n. Chr.) in seinem Hauptwerk „Ab
urbe condita" überlieferte Nachricht (Buch IV, Kap.
25, 3)195 zeigt, daß es bereits im 5. Jh. v. Chr. in Rom

„Bücher" gab, die Vorschriften für Rituale enthiel-
ten. Vorzeichen wie Seuchen wurden als Zorn der
Götter gedeutet, der nur durch bestimmte, aus den
„Büchern" zu entnehmende Rituale (z.B. Tempel-
gründungen) zu besänftigen war. Die Verknüpfung
dieser „Bücher" mit der Sibyllentradition erfolgte
erst spät, wohl im Zusammenhang mit dem 2.
Punischen Krieg gegen Ende des 3. Jahrhunderts v.
Chr.196, als auch typische Sibyllinenorakel, also Weis-
sagungen künftigen Schicksals, in die „Bücher"
aufgenommen wurden. Von da an wurden sie als
die „sibyllinischen Bücher" bezeichnet.

In Notzeiten, bei Kriegs- und Hungersnot sowie bei
Seuchen, wurden die geheimgehaltenen „Bücher"
auf Beschluß des Senats von einer besonderen
Priesterkommission als Orakel befragt, worauf die
Kommission besondere Maßnahmen anordnete. So
wurden auf ihre Anweisung hin auch neue griechi-
sche Gottheiten (meist Heilgötter) in Rom einge-
führt oder bestehende Kulte nach griechischem Ri-
tus erneuert. Der bei der Seuche des Jahres 433 v.
Chr. angekündigte Apollontempel ist bereits zwei
Jahre später auf dem Marsfeld erbaut und geweiht
worden. Das zunächst aus zwei Mitgliedern beste-
hende Priesterkollegium wurde 367 auf zehn Mit-
glieder erweitert. 293 v. Chr. wurde bei einer erneu-
ten Pest der Kult des Heilgottes Asklepios in Rom
eingeführt. 204 v. Chr., also vor dem Entscheidungs-
kampf gegen Hannibal, wurde in Ausdeutung eines
sibyllinischen Orakels der Kult der als Frucht-
barkeitsgöttin verehrten Magna Mater, der Großen
Göttermutter von Pessinus im kleinasiatischen
Phrygien, in Rom eingeführt, wozu der heilige
Meteorstein, das Symbol der Magna Mater, nach
Rom überführt wurde. In der Folgezeit konnten die
ganz anders gearteten orientalischen Kulte in Rom
heimisch werden.

194 Vgl. Kurfess (wie Anm. 59), S. 6.

19- Livius. Römische Geschichte seit Gründung der Stadt. Aus dem Lateinischen übersetzt von H. Dittrich, Bd. 1 (= Bibliothek der Antike.
Römische Reihe), Berlin und Weimar 1978, S. 315.
196 Vgl. Gauger (wie Anm. 125), S. 381.

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