DIE VERBREITUNG DES NAMENS SIBYLLE
Im französischen Hochadel
Im französischem Hochadel findet sich der Vorna-
me schon im 12. Jahrhundert239. Am berühmtesten
ist wohl jene Sibylle bzw. Sibylla (geb. um 1159, gest.
1190), die als Tochter des Königs Amalrich von Je-
rusalem sich 1186 vom Patriarchen von Jerusalem
zur Königin krönen ließ. Eine Sibylle (Sibilia), Toch-
ter des Grafen Rainald von Aquino (nördlich von
Neapel) aus altem langobardischen Adel, war mit
dem Normannengrafen Tankred von Lecce (t 1194)
verheiratet, der nach dem Tod des Königs Wilhelm
II. von Sizilien-Unteritalien im Jahre 1189 noch im
gleichen Jahr von sizilianischen Großen zum König
von Sizilien erhoben wurde. Nach seinem Tod am
20. Februar 1194 in Palermo lieferte sie dem Stau-
fer Heinrich VI., der ebenso Anspruch auf den sizi-
lianischen Thron erhoben hatte, Krone und
Normannenschatz aus und mußte mit ihrer Fami-
lie nach Deutschland (Kloster Hohenburg im Elsaß)
in die Verbannung gehen. Nach dem Tode des
Stauferkaisers im Jahre 1196 kam sie wieder frei und
konnte nach Frankreich flüchten.
Der Freiburger Historiker Klaus Graf vermutet, daß
diese frühe Verbreitung des Vornamens auf eine Art
Antike-Rezeption der Oberschichten zurückzuführen
ist.
„Heilige" namens Sibylle
Erst im Spätmittelalter lassen sich Namens-
trägerinnen feststellen, die aufgrund ihrer Selig-
sprechung von seifen der Kirche zur Verbreitung
des Vornamens „Sibylle" beigetragen haben kön-
nen. So wird in manchen Vornamen-Büchern die
seliggesprochene französische Zisterzienserin
Sibylla de Gages (t um 1250) aufgeführt240. Ihr Kult
begann aber erst mit der Erhebung ihrer Gebeine
am 9. Oktober 1610, ihr Gedenktag wurde fortan
der 9. Oktober. In Hermann Grotefends Standard-
werk zur „Zeitrechnung des deutschen Mittelalters
und der Neuzeit" findet sich allerdings nur der
Gedenktag der seligen Dominikanerin Sibyllina
Bicossi aus Pavia (1287 - 1367), der am 19. März in
Oberitalien begangen wurde241. Ihr Kult wurde erst
1854 kirchlich anerkannt. Somit kommen beide Se-
lige für die Verbreitung des Namens Sibylle im Spät-
mittelalter nicht in Frage.
In dem von Johann Evangelist Stadler 1882 heraus-
gegebenen „Vollständigen Heiligen-Lexikon" findet
sich noch eine dritte, aber recht obskure „Heilige"
mit dem Namen Sibylle242. Eine Gefährtin der hl.
Ursula soll diesen Namen gehabt haben, jener Kö-
nigstochter aus der Bretagne, die der Legende nach
bei der Rückkehr von einer Pilgerfahrt nach Rom
bei Köln getötet worden sein soll, als die Hunnen
ihr Schiff stürmten. Dabei sollen auch alle ihre Ge-
fährtinnen den Tod gefunden haben. Aufgrund ei-
nes Lesefehlers nahm man seit dem 10. Jahrhundert
an, daß 11000 Jungfrauen zu ihren Gefährtinnen
gezählt hätten. Die Visionen („Revelationen") der
hl. Elisabeth von Schönau (t 1164) lieferten zahlrei-
che Namen dieser Jungfrauen; in vermutlich par-
odistischer Absicht wurden von einem „Notarius"
239 Zu den beiden hochadligen Namensträgerinnen des 12. Jahrhunderts vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (1995), Sp. 1831.
2411 Lutz Mackensen: Das große Buch der Vornamen (4. Auflage 1969), S. 331. Bernd-Ulrich Hergemöller: Vornamen. Herkunft-Deutung-
Namensfest, Münster 1978, S. 121. Zu Sibylle de Gages vgl. Bibliotheca Sanctorum, Bd. 11, Rom 1968, Sp. 1020 f.
241 Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 2, Neudruck der Ausgabe Hannover 1892-98, Aa-
len 1970, S. 168. Zu Sibyllina Biscossi vgl. O. Wimmer / H. Melzer: Lexikon der Namen und Heiligen, bearb. v. J. Gelmi, Innsbruck/Wien
1988, S. 743.
242 „Vollständiges Heiligen-Lexikon", hg. v. Johann Evangelist Stadler, Bd. 5, Augsburg 1882, S. 283.
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Im französischen Hochadel
Im französischem Hochadel findet sich der Vorna-
me schon im 12. Jahrhundert239. Am berühmtesten
ist wohl jene Sibylle bzw. Sibylla (geb. um 1159, gest.
1190), die als Tochter des Königs Amalrich von Je-
rusalem sich 1186 vom Patriarchen von Jerusalem
zur Königin krönen ließ. Eine Sibylle (Sibilia), Toch-
ter des Grafen Rainald von Aquino (nördlich von
Neapel) aus altem langobardischen Adel, war mit
dem Normannengrafen Tankred von Lecce (t 1194)
verheiratet, der nach dem Tod des Königs Wilhelm
II. von Sizilien-Unteritalien im Jahre 1189 noch im
gleichen Jahr von sizilianischen Großen zum König
von Sizilien erhoben wurde. Nach seinem Tod am
20. Februar 1194 in Palermo lieferte sie dem Stau-
fer Heinrich VI., der ebenso Anspruch auf den sizi-
lianischen Thron erhoben hatte, Krone und
Normannenschatz aus und mußte mit ihrer Fami-
lie nach Deutschland (Kloster Hohenburg im Elsaß)
in die Verbannung gehen. Nach dem Tode des
Stauferkaisers im Jahre 1196 kam sie wieder frei und
konnte nach Frankreich flüchten.
Der Freiburger Historiker Klaus Graf vermutet, daß
diese frühe Verbreitung des Vornamens auf eine Art
Antike-Rezeption der Oberschichten zurückzuführen
ist.
„Heilige" namens Sibylle
Erst im Spätmittelalter lassen sich Namens-
trägerinnen feststellen, die aufgrund ihrer Selig-
sprechung von seifen der Kirche zur Verbreitung
des Vornamens „Sibylle" beigetragen haben kön-
nen. So wird in manchen Vornamen-Büchern die
seliggesprochene französische Zisterzienserin
Sibylla de Gages (t um 1250) aufgeführt240. Ihr Kult
begann aber erst mit der Erhebung ihrer Gebeine
am 9. Oktober 1610, ihr Gedenktag wurde fortan
der 9. Oktober. In Hermann Grotefends Standard-
werk zur „Zeitrechnung des deutschen Mittelalters
und der Neuzeit" findet sich allerdings nur der
Gedenktag der seligen Dominikanerin Sibyllina
Bicossi aus Pavia (1287 - 1367), der am 19. März in
Oberitalien begangen wurde241. Ihr Kult wurde erst
1854 kirchlich anerkannt. Somit kommen beide Se-
lige für die Verbreitung des Namens Sibylle im Spät-
mittelalter nicht in Frage.
In dem von Johann Evangelist Stadler 1882 heraus-
gegebenen „Vollständigen Heiligen-Lexikon" findet
sich noch eine dritte, aber recht obskure „Heilige"
mit dem Namen Sibylle242. Eine Gefährtin der hl.
Ursula soll diesen Namen gehabt haben, jener Kö-
nigstochter aus der Bretagne, die der Legende nach
bei der Rückkehr von einer Pilgerfahrt nach Rom
bei Köln getötet worden sein soll, als die Hunnen
ihr Schiff stürmten. Dabei sollen auch alle ihre Ge-
fährtinnen den Tod gefunden haben. Aufgrund ei-
nes Lesefehlers nahm man seit dem 10. Jahrhundert
an, daß 11000 Jungfrauen zu ihren Gefährtinnen
gezählt hätten. Die Visionen („Revelationen") der
hl. Elisabeth von Schönau (t 1164) lieferten zahlrei-
che Namen dieser Jungfrauen; in vermutlich par-
odistischer Absicht wurden von einem „Notarius"
239 Zu den beiden hochadligen Namensträgerinnen des 12. Jahrhunderts vgl. Lexikon des Mittelalters, Bd. 7 (1995), Sp. 1831.
2411 Lutz Mackensen: Das große Buch der Vornamen (4. Auflage 1969), S. 331. Bernd-Ulrich Hergemöller: Vornamen. Herkunft-Deutung-
Namensfest, Münster 1978, S. 121. Zu Sibylle de Gages vgl. Bibliotheca Sanctorum, Bd. 11, Rom 1968, Sp. 1020 f.
241 Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Bd. 2, Neudruck der Ausgabe Hannover 1892-98, Aa-
len 1970, S. 168. Zu Sibyllina Biscossi vgl. O. Wimmer / H. Melzer: Lexikon der Namen und Heiligen, bearb. v. J. Gelmi, Innsbruck/Wien
1988, S. 743.
242 „Vollständiges Heiligen-Lexikon", hg. v. Johann Evangelist Stadler, Bd. 5, Augsburg 1882, S. 283.
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