Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
FRANZÖSISCHE KRITIK AN DER VERFASSUNG

Gambetta“, erklärte Marcel Sembat, „haben vergessen, daß zwischen
dem republikanischen Willen und dem Friedenswillen ursprünglich
eine enge Verbindung bestand. Sie bewahrten ihre Vorliebe für die
Republik, durchsetzten sie aber mit einem neuen Kriegswillen und
Rachegedanken. Sie verwandelten den Pflug in eine Kanone.“ Die
französischen Militaristen bedrohten diejenigen, die sich für die Durch-
führung der republikanischen Ideale einsetzten, mit dem Tode, wie
Jean Jaures in der Kammersitzung vom 4. Juli 1913 den Rechtsparteien
vorwarf.
Aus dem Bewußtsein der Haltlosigkeit dieser Zustände ist 1914
Marcel Sembats Buch „Faites un roi sinon faites la Paix“ entstanden,
das, heiß umstritten, in wenigen Monaten zwanzig Auflagen erlebte.
„Aux travailleurs socialistes, ä l’Allemagne ouvriere, marxiste, aux
amis de Liebknecht, ancien combattant de nos barricades republi-
caines, nous avons montre une Republique massacreuse de grevistes
pourvoyeuse de prisons, et alliee du tsar! II y avait de quoi les
faire vomir ... La Republique a cesse d’etre republicaine, eile est
antirepublicaine . . . continuant l’histoire ä la facon royale.“ Wenn
auch eine dunkle Ahnung der herannahenden Katastrophe in den
letzten Jahren vor 1914 die Erörterungen dieser Probleme verviel-
fältigte und erhitzte, so ist die Erkenntnis des Widerspruches zwischen
Schein und Wirklichkeit in der französischen Verfassung und Ver-
waltung nicht neu. Nicht erst Clemenceau, der die geflügelten Worte
geprägt hat: „Jetzt stehe ich auf der andern Seite der Barrikade“
und „damals gehörte ich zur Opposition, heute gehöre ich zur Regie-
rung“, hat die Verleugnung zur Theorie erhoben, sondern schon Ferry
und Gambetta haben in zynischer Tartufferie dem demokratischen
Freiheits- und Gleichheitsideal einen antidemokratischen Sinn unter-
legt. Er entspricht der Auffassung des Patriotismus als einer „affection
egoiste et jalouse“, wie sie Jules Delafosse formuliert hat, ein Ab-
geordneter jener ehemaligen Progressistenpartei, in der heute noch
alte Mitglieder der opportunistischen Gambettapartei sitzen. Kurz vor
dem kritischen Jahre hat am schlagendsten der französische Historiker
Pierre Simon in seiner Schrift über Thiers darauf hingewiesen, daß
die erste, zweite und dritte Republik keineswegs danach strebten, die
Ideale, die sie aufgestellt hatten, zu verwirklichen. Simon sieht in der
Verfassungsgeschichte Frankreichs seit der Revolution einen dauern-
den Kampf zwischen dem „Ideal de la Separation des pouvoirs“, das
Montesquieu geprägt hat, und der „souverainete indivisible et in-
alienable“, die Jean Jacques Rousseau forderte. Montesquieus Postulat
1* 3
 
Annotationen