DER DREYFUSPROZESS
schiedenen, monarchistischen Parteien. Wenn in ihren Reihen schon
1872 das Witzwort geprägt wurde: „Tartuffe heißt heute konservativer
Republikaner“, so wußten sie, daß es eine zweite Gruppe maskierter
Oppositioneller gab, die ebenso fest wie sie an der alten französischen
Tradition festhielten. Die Präsidentschaft Mac Mahons ist der sicht-
barste Ausdruck der Restaurationsbewegung. In der Geschichte des
zeitgenössischen Frankreichs berichtet Gabriel Hanotaux, daß schon
unter ihm die religiöse Restauration einsetzte. Die Boulanger-Episode
ist ein weiteres Kennzeichen, daß Konservativismus, Traditionalismus
und Imperialismus in Frankreich keineswegs erloschen waren. Durch
die Dreyfus-Affäre endlich wurden alle Demokraten, alle diejenigen,
die ein Frankreich im neuen Geiste aufbauen wollten, wach gerüttelt;
denn sie sahen mit Schrecken, wie weit unter dem Mantel der Rousseau-
sehen Ideologie die politische und militärische Restauration bereits
gediehen war. Nach der Verurteilung des Hauptmanns Dreyfus erhob
Emile Zola seine anklagende und klagende Stimme. „Notre Sedan
moral est perdu, cent fois plus desastreux que l’autre, celui oü il
n’y a eu que du sang verse!“ und um den Geist, den er meinte, zu
retten, die romantischen Idealerer Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
zu verwirklichen, mahnte er flehend: „0 jeunesse, o jeunesse, je t’en
supplie, songe ä la grande besogne qui t’attend . . . Jeunesse, sois
humaine, sois genereuse!“
Man wird die Schriften, in denen die Kämpfe der Geister jener
Zeit aufgefangen sind, nie ohne Erschütterung lesen. Je tiefer man
in jene Zeit eindringt, um so deutlicher wird, daß damals eine Gruppe
aufrichtiger, leidenschaftlicher, tapferer Franzosen eine kühne, mutige,
dauerhafte Anstrengung machte, um den römisch-romanischen Panzer,
der Frankreich von anderen Völkern abschließt, zu zersprengen, um
die weibliche Mystik des Rousseauismus zu vermännlichen, um den
Individualismus zu aristokratisieren. In jener Zeit erließen Eugene Paz
und Pierre de Coubertin ihre ersten Aufrufe zur Stählung der Muskeln
und Zola forderte eine „weise und stärkende Pflege des Körpers“.
Tragische Bedeutung gewannen diese Bestrebungen romantischer
Kreise dadurch, daß ihre Ergebnisse nicht ihnen, sondern ihren Feinden
zugute kamen, ja daß viele ihrer Führer selbst in das Lager der
Dreyfusards übergingen und dem Cäsarismus dienten, den der glü-
hendste Antidreyfusard Charles Peguy so entschieden verurteilt hatte.
Ganz seltsam klingen Peguys Sätze in Notre Jeunesse vom Jahre
1910, wenn man sie heute nach dem Kriege noch einmal liest: „Die
Antidreyfusards und wir Dreyfusards, wir sprechen die gleiche Sprache.
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schiedenen, monarchistischen Parteien. Wenn in ihren Reihen schon
1872 das Witzwort geprägt wurde: „Tartuffe heißt heute konservativer
Republikaner“, so wußten sie, daß es eine zweite Gruppe maskierter
Oppositioneller gab, die ebenso fest wie sie an der alten französischen
Tradition festhielten. Die Präsidentschaft Mac Mahons ist der sicht-
barste Ausdruck der Restaurationsbewegung. In der Geschichte des
zeitgenössischen Frankreichs berichtet Gabriel Hanotaux, daß schon
unter ihm die religiöse Restauration einsetzte. Die Boulanger-Episode
ist ein weiteres Kennzeichen, daß Konservativismus, Traditionalismus
und Imperialismus in Frankreich keineswegs erloschen waren. Durch
die Dreyfus-Affäre endlich wurden alle Demokraten, alle diejenigen,
die ein Frankreich im neuen Geiste aufbauen wollten, wach gerüttelt;
denn sie sahen mit Schrecken, wie weit unter dem Mantel der Rousseau-
sehen Ideologie die politische und militärische Restauration bereits
gediehen war. Nach der Verurteilung des Hauptmanns Dreyfus erhob
Emile Zola seine anklagende und klagende Stimme. „Notre Sedan
moral est perdu, cent fois plus desastreux que l’autre, celui oü il
n’y a eu que du sang verse!“ und um den Geist, den er meinte, zu
retten, die romantischen Idealerer Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
zu verwirklichen, mahnte er flehend: „0 jeunesse, o jeunesse, je t’en
supplie, songe ä la grande besogne qui t’attend . . . Jeunesse, sois
humaine, sois genereuse!“
Man wird die Schriften, in denen die Kämpfe der Geister jener
Zeit aufgefangen sind, nie ohne Erschütterung lesen. Je tiefer man
in jene Zeit eindringt, um so deutlicher wird, daß damals eine Gruppe
aufrichtiger, leidenschaftlicher, tapferer Franzosen eine kühne, mutige,
dauerhafte Anstrengung machte, um den römisch-romanischen Panzer,
der Frankreich von anderen Völkern abschließt, zu zersprengen, um
die weibliche Mystik des Rousseauismus zu vermännlichen, um den
Individualismus zu aristokratisieren. In jener Zeit erließen Eugene Paz
und Pierre de Coubertin ihre ersten Aufrufe zur Stählung der Muskeln
und Zola forderte eine „weise und stärkende Pflege des Körpers“.
Tragische Bedeutung gewannen diese Bestrebungen romantischer
Kreise dadurch, daß ihre Ergebnisse nicht ihnen, sondern ihren Feinden
zugute kamen, ja daß viele ihrer Führer selbst in das Lager der
Dreyfusards übergingen und dem Cäsarismus dienten, den der glü-
hendste Antidreyfusard Charles Peguy so entschieden verurteilt hatte.
Ganz seltsam klingen Peguys Sätze in Notre Jeunesse vom Jahre
1910, wenn man sie heute nach dem Kriege noch einmal liest: „Die
Antidreyfusards und wir Dreyfusards, wir sprechen die gleiche Sprache.
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