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ELIE FAURES ISOLIERTHEIT

Von dieser Zeit an entspann sich zwischen Onesime Reclus, seiner
Familie und mir ein freundschaftlicher Verkehr, wie er zwischen Fran-
zosen und Deutschen selten war. In seiner Kleidung, in seinem
Äußeren und auch in seiner Sprechweise lag etwas, was ein Deutscher
als unfranzösisch zu bezeichnen pflegt: formlos, unrepräsentativ, un-
rhetorisch, antidialektisch. Niemals haben sein älterer Bruder Elysee
und er sich in die convenance und bienseance der französischen Ge-
sellschaft eingefügt. Und weil sie wie ein lebendiger Protest gegen
die traditionelle Gesellschaftsform wirkten, haben sie das Protestlerische
auch äußerlich unterstrichen.
Wie die befrackten Herren und die dekolletierten Damen der
Gesellschaft in einem Bogen um Onesime Reclus herumgingen, um
sich nicht zu kompromittieren, und nur von ferne vornehmlich Aus-
länder darauf hinzuweisen, daß es in Frankreich auch Freiheit und
Individualismus gäbe, so steht auch Elie Faure, dessen Mutter One-
sime Reclus’ Schwester war, im konservativen, traditionalistischen,
klassizistischen Frankreich einsam da. Er darf sich nicht wundern
über das Vacuum, das ihn in seinem eigenen Lande umgibt, denn der
horror der Franzosen richtet sich gegen alle Calvinisten und Pro-
testanten gleichermaßen. Protestanten gelten als Franzosen zweiten
Ranges; mit Recht, denn sie sind antilateinisch, antikatholisch, anti-
imperialistisch — toujours un peu emboche.
Das ist natürlich tendenziöse Übertreibung. Taktik der Lateiner:
die Fehler des Gegners und ihre Bedeutung zu übertreiben, um ihn
in die Defensive zu drängen, durch dialektische Hyperbeln den In-
dividualisten, den Außenseiter bloßzustellen, um ihn zur Selbsteinkehr,
zum Gehorsam gegen Landesbrauch und Sitte zu zwingen. In dieser
Art hat der Temps während des ganzen Krieges die zahmen Sozia-
listen Frankreichs als Bolschewisten gebrandmarkt, so daß jeder „an-
ständige Bürger“ eine äußere oder innere Gemeinsamkeit mit ihnen
ablehnen mußte. Im gleichen Sinn wurde die bürgerliche Herde
Frankreichs vor Caillaux’ Politik als einer nationalen Gefahr und vor
Romain Rolland als einem Landesverräter gewarnt. Mit Elie Faure
ging man sanfter um. Erstens glaubte man nicht an eine breitere,
also staatsgefährliche Wirkung seiner Schriften, zweitens war er der
Bruder und Mitarbeiter des berühmten Gynäkologen J. L. Faure und
hat als Mediziner harten Dienst hinter der Front getan. Es gab keinen
Kampf gegen ihn, wie es einen Kampf gegen Rolland gab. Immerhin,
als sein drittes Kriegsbuch erschien, hielt Paul Souday es doch für
nötig, eine sechs Spalten lange Warnung zu schreiben, in der sich

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