LUCIENNE
Die heitere Filmgeschichte: Donogoo-Tonka, die der Neue Merkur
1920 deutsch herausbrachte, und die Komödie: „M. Le Trouhadec,
saisi par la debauche“ aus dem Jahre 1921 übergehe ich, da sie im
Gesamtwerk des Dichters nur die untergeordnete Rolle von Intermezzis
spielen. Dagegen steht Jules Romains’ neuester Roman: Lucienne
ganz auf der Höhe der früheren Arbeiten, übertrifft La mort de
Quel-qu’un durch straffen Aufbau, Überlegenheit im Vortrag und
zarte Ironie.
Lucienne hat eine Freundin in der Provinz, deren sie sich in
einer Stunde des Überdrusses an Paris erinnert. Die Freundin schreibt,
sie solle kommen, sie würde ihr helfen, in ihrer Stadt sei Beschäf-
tigung für eine Klavierlehrerin. Lucienne folgt dem Ruf und findet
Schülerinnen, aber so wenige, daß sie sich nur unter Entbehrungen
durchschlagen kann. Als ihre Freundin sich über den harten Daseins-
kampf Luciennes Rechenschaft gegeben hat, empfiehlt sie sie noch
an eine Familie mit zwei erwachsenen Töchtern. In dem Hause
verkehrt ein junger Neffe der Familie, ein Beamter der Handelsmarine,
der weit gereist, die Luft der großen Welt in sich trägt. Die Mutter
wittert eine Partie. Beide Töchter verlieben sich in ihn. Sie werden
weniger durch seine Schönheit angezogen, als durch tausend kleine
äußere Umstände auf ihn hingedrängt. Er aber denkt nicht daran,
sein Leben in diesem engen, provinziellen Milieu zu verankern,
erkennt die weite Seele Luciennes. Beide glühen einander ent-
gegen.
Die Inhaltsangabe des Romans vermag nichts von dem dichte-
rischen Reiz zu fassen. Das Thema ist alltäglich. Das Besondere
liegt in dem Blickpunkt, von dem aus das Thema gesehen ist. Keine
sentimentale Erzählung einer Herzensgeschichte, sondern ein Sich-
hineinversetzen des Dichters in das Zentrum des Schicksalwerdens
und von dort aus epische Gestaltung. „Jeder Mann und jede Frau,
die sich im Leben begegnen“, heißt es in dem Roman, „treten als
Sich-lieben-Wollende einander gegenüber. Dieser Zustand gewinnt
natürlich nur ausnahmsweise Dauer. Meistens tut sich sofort eine
Kluft zwischen ihnen auf. Sie ziehen sich voneinander zurück, und
zwar mit unheimlicher Schnelligkeit.“ Das Aufeinanderzugleiten und
Sich-voneinander-Abstoßen der Seelen, alle Imponderabilien der
Sympathie und Antipathie, die ungreifbaren, aus vielen Äußerlich-
keiten zusammengesetzten Fügungen des Schicksals hat Jules Romains
in der zufälligen Begegnung von Menschen mit feinen Fingern aus
dem Unsichtbaren ans Licht geholt und in diesem seltsamen Roman
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Die heitere Filmgeschichte: Donogoo-Tonka, die der Neue Merkur
1920 deutsch herausbrachte, und die Komödie: „M. Le Trouhadec,
saisi par la debauche“ aus dem Jahre 1921 übergehe ich, da sie im
Gesamtwerk des Dichters nur die untergeordnete Rolle von Intermezzis
spielen. Dagegen steht Jules Romains’ neuester Roman: Lucienne
ganz auf der Höhe der früheren Arbeiten, übertrifft La mort de
Quel-qu’un durch straffen Aufbau, Überlegenheit im Vortrag und
zarte Ironie.
Lucienne hat eine Freundin in der Provinz, deren sie sich in
einer Stunde des Überdrusses an Paris erinnert. Die Freundin schreibt,
sie solle kommen, sie würde ihr helfen, in ihrer Stadt sei Beschäf-
tigung für eine Klavierlehrerin. Lucienne folgt dem Ruf und findet
Schülerinnen, aber so wenige, daß sie sich nur unter Entbehrungen
durchschlagen kann. Als ihre Freundin sich über den harten Daseins-
kampf Luciennes Rechenschaft gegeben hat, empfiehlt sie sie noch
an eine Familie mit zwei erwachsenen Töchtern. In dem Hause
verkehrt ein junger Neffe der Familie, ein Beamter der Handelsmarine,
der weit gereist, die Luft der großen Welt in sich trägt. Die Mutter
wittert eine Partie. Beide Töchter verlieben sich in ihn. Sie werden
weniger durch seine Schönheit angezogen, als durch tausend kleine
äußere Umstände auf ihn hingedrängt. Er aber denkt nicht daran,
sein Leben in diesem engen, provinziellen Milieu zu verankern,
erkennt die weite Seele Luciennes. Beide glühen einander ent-
gegen.
Die Inhaltsangabe des Romans vermag nichts von dem dichte-
rischen Reiz zu fassen. Das Thema ist alltäglich. Das Besondere
liegt in dem Blickpunkt, von dem aus das Thema gesehen ist. Keine
sentimentale Erzählung einer Herzensgeschichte, sondern ein Sich-
hineinversetzen des Dichters in das Zentrum des Schicksalwerdens
und von dort aus epische Gestaltung. „Jeder Mann und jede Frau,
die sich im Leben begegnen“, heißt es in dem Roman, „treten als
Sich-lieben-Wollende einander gegenüber. Dieser Zustand gewinnt
natürlich nur ausnahmsweise Dauer. Meistens tut sich sofort eine
Kluft zwischen ihnen auf. Sie ziehen sich voneinander zurück, und
zwar mit unheimlicher Schnelligkeit.“ Das Aufeinanderzugleiten und
Sich-voneinander-Abstoßen der Seelen, alle Imponderabilien der
Sympathie und Antipathie, die ungreifbaren, aus vielen Äußerlich-
keiten zusammengesetzten Fügungen des Schicksals hat Jules Romains
in der zufälligen Begegnung von Menschen mit feinen Fingern aus
dem Unsichtbaren ans Licht geholt und in diesem seltsamen Roman
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