194 LEBEN EAPHAEL'S
der kenne ich die Studie für den Kopf eines der Heiligen
nicht, welche sich in Lille befindet. Für mein Gefühl zeigt
das Werk eine über raphaelisches Maass fast hinausgehende
Weichheit. Es liegt eine Zartheit in der Art, wie der Natur
hier nachgegangen wurde, die in der That nur Fra Barto-
lommeo in diesem Grade eigen war und für die Raphael
meines Wissens kein weiteres Beispiel geliefert hat.
Ich will nicht fest behaupten, Vasari sei ein Irrthum
zugestossen und das Werk müsse Fra Bartolommeo zurück-
gegeben werden: Raphael gewährt auch in späterer Zeit noch
fremder Eigentümlichkeit bedeutenden Einfluss auf seine
Arbeiten*). Dass er die Madonna da Pescia dann aber
erst während seines römischen .Aufenthalts gemacht habe,
bewiesen fast zur Sicherheit die beiden die Vorhänge am
Thron der Maria geöffnet haltenden fliegenden Engel; einer
von ihnen stimmt mit dem einen fliegenden Engel der Sibyl-
len in Sta Maria della Pacea) so sehr überein, indem er ihn
zugleich jedoch an Schönheit weit übertrifft, dass hieraus
schon die spätere Zeitangabe fliesst. Aber auch den andern
Engel treffen wir auf demselben Fresco, wo sein Oberkörper
in der Haltung des Kopfes und der beiden Arme dem des
sitzenden Engels entspricht, welcher die Tafel hält, auf die
die persische Sibylle schreibt. Beidemale sehen wir die
Durchführung dieser Figuren auf dem Fresco hinter derjeni-
gen der Madonna da Pescia zurückstehen, so dass, selbst
wenn die Engel des Fresco, was die Ausführung in Farben
anlangt, nicht von Raphael herrührten, dennoch anzunehmen
wäre, er habe diese früher gezeichnet als jene.
Einmal auf diesem Standpuncte sicher, betrachten wir
nun den ruhigen, grossartigen Zug der Composition mit minde-
rem Befremden. Offen gestanden jedoch: zuweilen möchte ich
') Vergl. Cap. XIII, 6 die Madonna di Loreto, die ganz lionardeske
Partieen zeigt ») Cap. XIV, 7.
der kenne ich die Studie für den Kopf eines der Heiligen
nicht, welche sich in Lille befindet. Für mein Gefühl zeigt
das Werk eine über raphaelisches Maass fast hinausgehende
Weichheit. Es liegt eine Zartheit in der Art, wie der Natur
hier nachgegangen wurde, die in der That nur Fra Barto-
lommeo in diesem Grade eigen war und für die Raphael
meines Wissens kein weiteres Beispiel geliefert hat.
Ich will nicht fest behaupten, Vasari sei ein Irrthum
zugestossen und das Werk müsse Fra Bartolommeo zurück-
gegeben werden: Raphael gewährt auch in späterer Zeit noch
fremder Eigentümlichkeit bedeutenden Einfluss auf seine
Arbeiten*). Dass er die Madonna da Pescia dann aber
erst während seines römischen .Aufenthalts gemacht habe,
bewiesen fast zur Sicherheit die beiden die Vorhänge am
Thron der Maria geöffnet haltenden fliegenden Engel; einer
von ihnen stimmt mit dem einen fliegenden Engel der Sibyl-
len in Sta Maria della Pacea) so sehr überein, indem er ihn
zugleich jedoch an Schönheit weit übertrifft, dass hieraus
schon die spätere Zeitangabe fliesst. Aber auch den andern
Engel treffen wir auf demselben Fresco, wo sein Oberkörper
in der Haltung des Kopfes und der beiden Arme dem des
sitzenden Engels entspricht, welcher die Tafel hält, auf die
die persische Sibylle schreibt. Beidemale sehen wir die
Durchführung dieser Figuren auf dem Fresco hinter derjeni-
gen der Madonna da Pescia zurückstehen, so dass, selbst
wenn die Engel des Fresco, was die Ausführung in Farben
anlangt, nicht von Raphael herrührten, dennoch anzunehmen
wäre, er habe diese früher gezeichnet als jene.
Einmal auf diesem Standpuncte sicher, betrachten wir
nun den ruhigen, grossartigen Zug der Composition mit minde-
rem Befremden. Offen gestanden jedoch: zuweilen möchte ich
') Vergl. Cap. XIII, 6 die Madonna di Loreto, die ganz lionardeske
Partieen zeigt ») Cap. XIV, 7.