Gesellschaftlicher Wert der Form
Größe der Kirche sagten. Dieser Glaube stehe
jedoch auf schwachen Füßen und verschwinde
mit der Zeit, wenn er nicht unterstützt werde
durch etwas Großartiges. Um im Bewusstsein
des Volkes feste und unverbrüchliche Über-
zeugungen zu schaffen, müsse etwas vorhan-
den sein, das zum Auge spricht. Ein Glaube,
der nur durch Dogmen untermauert sei, werde
stets schwächlich und wankend bleiben. Die
Erfahrung lehre nämlich, dass große und dau-
erhafte Bauten bei den Betrachtern die Devoti-
on festigen und die Achtung der ganzen Welt
vor der Institution der Kirche stärken würden.
Mit einem ähnlichen Argument wie Niko-
laus V. begründet Paolo Cortesi in seinem Trak-
tat über das Amt des Kardinals (1510), dass die
Paläste von Kardinälen würdig gestaltet sein
sollten. Er meint, das einfache Volk, gewöhn-
lich mehr durch Gefühle als durch rationale
Überlegungen geleitet, werde durch die pracht-
volle Erscheinung in Bewunderung vor der
Macht versetzt.8 Dementsprechend galt es in
der Renaissance als klug, Wehrbauten so auf-
wendig zu gestalten, dass der Angreifer ab-
zieht aus Furcht vor der Stärke, die sein Feind
zur Schau stellen kann (vgl. V,2).
Diese Haltung war nicht neu. Schon im Mit-
telalter war die Ansicht verbreitet, dass die Kir-
che großartige Bauten brauche, um ihre Wür-
de zur Schau zu stellen, weil das gemeine Volk
zu ignorant sei, um eine andere Sprache zu
verstehen. Bernhard von Clairvaux rügte zwar
großen Aufwand bei Klöstern, aber er räumte
ein, dass Bischöfe opulente Architektur brauch-
ten: „Freilich die Sache der Bischöfe ist eine an-
dere als die der Mönche. Wir wissen nämlich,
daß jene, da sie Weisen und Unwissenden ver-
pflichtet sind, die Andacht des fleischlich ge-
sinnten Volkes mit materiellem Schmuck anre-
gen, weil sie es mit Geistigem nicht vermögen"
(1124/25).9
Nicht allein Großartigkeit, sondern auch
der Stil konnte gesellschaftlichen Wert haben.
Der neue Stil der Renaissance verband sich mit
dem Gedanken an Fortschritt, Nutzen, Huma-
nität. Regierungen übernahmen ihn zum Zei-
chen ihrer fortschrittlichen Haltung (vgl. III).
Das Ospedale degli Innocenti bildete gewis-
sermaßen die Florentiner Standarte beim Auf-
bruch in die Neuzeit (vgl. Abb. 22). Die strenge
Fassade in strahlendem Weiß mit den ersten
antikischen Säulen, die öffentlich im Stadtbild
erschienen, wurde mit einem hohen Treppen-
sockel geradezu theatralisch inszeniert. Ihr
fortschrittlicher Stil sollte offenbar die fort-
schrittliche soziale Haltung der Florentiner de-
monstrieren.
Die Anlehnung an antike Bauten oder an sol-
che, die der Antike nahestehen und nicht von
den „Barbarismen" der Gotik entstellt sind,
konnte präzise politische Ansprüche demons-
trieren: Indem die venezianischen Kirchen zu
Beginn der Renaissance San Giacomo di Rial-
to nachahmten, zeigten sie die Eigenständigkeit
der Lagunenstadt gegenüber Reich und Kir-
che, ihre Verbindung mit Konstantinopel und
ihren antiken Ursprung. IwanIII. ordnete an,
die Himmelfahrtskathedrale im Kreml wie die
Himmelfahrtskathedrale von Vladimir zu ge-
stalten (vgl. Abb. 50, 52), um zu unterstreichen,
dass er Moskau zum neuen Zentrum aller Reu-
ßen erhob. Nach der Eroberung von Konstan-
tinopel nahmen die Osmanen die Hagia Sophia
zum Vorbild ihrer Moscheen, weil sie die Nach-
folge von Byzanz antreten wollten.
Serlio unterscheidet in seinen Theaterpros-
pekten die Vornehmheit von Architektur nach
Stilen (1545). Die Tragödie, die in der Sphäre
von Herrschern und Heroen spielt, zeichnet
sich durch antikische Formen aus; bei Komödi-
en, die im einfacheren Milieu von Privatperso-
nen spielt, „wie es Bürger, Advokaten, Händ-
ler, Tagediebe und ähnliche Personen sind",
sind gotische Spitzbögen und andere primitive
Elemente angebracht (Abb. 191).10 In Carpi fin-
det sich eine entsprechende Verteilung der Sti-
le (Abb. 192): Während die herrschaftliche Re-
sidenz Renaissanceformen aufnimmt, bleiben
die Formen der Bürgerhäuser, die ihr gegen-
über gleichzeitig von der öffentlichen Hand
errichtet wurden, gotisch (ab 1505).
Gotische Formen fanden bis weit ins 16. Jahr-
hundert hinein im Kunsthandwerk Anwen-
dung, weil es niedriger als Malerei oder Skulp-
tur eingestuft wurde. Ein charakteristisches
frühes Beispiel bilden die gotischen Intarsi-
8 Weil-Garris Posner/
d’Amico 1980,89.
9 Binding 1996,227ff.
10 Serlio 1545/11,67r-69r.
215
Größe der Kirche sagten. Dieser Glaube stehe
jedoch auf schwachen Füßen und verschwinde
mit der Zeit, wenn er nicht unterstützt werde
durch etwas Großartiges. Um im Bewusstsein
des Volkes feste und unverbrüchliche Über-
zeugungen zu schaffen, müsse etwas vorhan-
den sein, das zum Auge spricht. Ein Glaube,
der nur durch Dogmen untermauert sei, werde
stets schwächlich und wankend bleiben. Die
Erfahrung lehre nämlich, dass große und dau-
erhafte Bauten bei den Betrachtern die Devoti-
on festigen und die Achtung der ganzen Welt
vor der Institution der Kirche stärken würden.
Mit einem ähnlichen Argument wie Niko-
laus V. begründet Paolo Cortesi in seinem Trak-
tat über das Amt des Kardinals (1510), dass die
Paläste von Kardinälen würdig gestaltet sein
sollten. Er meint, das einfache Volk, gewöhn-
lich mehr durch Gefühle als durch rationale
Überlegungen geleitet, werde durch die pracht-
volle Erscheinung in Bewunderung vor der
Macht versetzt.8 Dementsprechend galt es in
der Renaissance als klug, Wehrbauten so auf-
wendig zu gestalten, dass der Angreifer ab-
zieht aus Furcht vor der Stärke, die sein Feind
zur Schau stellen kann (vgl. V,2).
Diese Haltung war nicht neu. Schon im Mit-
telalter war die Ansicht verbreitet, dass die Kir-
che großartige Bauten brauche, um ihre Wür-
de zur Schau zu stellen, weil das gemeine Volk
zu ignorant sei, um eine andere Sprache zu
verstehen. Bernhard von Clairvaux rügte zwar
großen Aufwand bei Klöstern, aber er räumte
ein, dass Bischöfe opulente Architektur brauch-
ten: „Freilich die Sache der Bischöfe ist eine an-
dere als die der Mönche. Wir wissen nämlich,
daß jene, da sie Weisen und Unwissenden ver-
pflichtet sind, die Andacht des fleischlich ge-
sinnten Volkes mit materiellem Schmuck anre-
gen, weil sie es mit Geistigem nicht vermögen"
(1124/25).9
Nicht allein Großartigkeit, sondern auch
der Stil konnte gesellschaftlichen Wert haben.
Der neue Stil der Renaissance verband sich mit
dem Gedanken an Fortschritt, Nutzen, Huma-
nität. Regierungen übernahmen ihn zum Zei-
chen ihrer fortschrittlichen Haltung (vgl. III).
Das Ospedale degli Innocenti bildete gewis-
sermaßen die Florentiner Standarte beim Auf-
bruch in die Neuzeit (vgl. Abb. 22). Die strenge
Fassade in strahlendem Weiß mit den ersten
antikischen Säulen, die öffentlich im Stadtbild
erschienen, wurde mit einem hohen Treppen-
sockel geradezu theatralisch inszeniert. Ihr
fortschrittlicher Stil sollte offenbar die fort-
schrittliche soziale Haltung der Florentiner de-
monstrieren.
Die Anlehnung an antike Bauten oder an sol-
che, die der Antike nahestehen und nicht von
den „Barbarismen" der Gotik entstellt sind,
konnte präzise politische Ansprüche demons-
trieren: Indem die venezianischen Kirchen zu
Beginn der Renaissance San Giacomo di Rial-
to nachahmten, zeigten sie die Eigenständigkeit
der Lagunenstadt gegenüber Reich und Kir-
che, ihre Verbindung mit Konstantinopel und
ihren antiken Ursprung. IwanIII. ordnete an,
die Himmelfahrtskathedrale im Kreml wie die
Himmelfahrtskathedrale von Vladimir zu ge-
stalten (vgl. Abb. 50, 52), um zu unterstreichen,
dass er Moskau zum neuen Zentrum aller Reu-
ßen erhob. Nach der Eroberung von Konstan-
tinopel nahmen die Osmanen die Hagia Sophia
zum Vorbild ihrer Moscheen, weil sie die Nach-
folge von Byzanz antreten wollten.
Serlio unterscheidet in seinen Theaterpros-
pekten die Vornehmheit von Architektur nach
Stilen (1545). Die Tragödie, die in der Sphäre
von Herrschern und Heroen spielt, zeichnet
sich durch antikische Formen aus; bei Komödi-
en, die im einfacheren Milieu von Privatperso-
nen spielt, „wie es Bürger, Advokaten, Händ-
ler, Tagediebe und ähnliche Personen sind",
sind gotische Spitzbögen und andere primitive
Elemente angebracht (Abb. 191).10 In Carpi fin-
det sich eine entsprechende Verteilung der Sti-
le (Abb. 192): Während die herrschaftliche Re-
sidenz Renaissanceformen aufnimmt, bleiben
die Formen der Bürgerhäuser, die ihr gegen-
über gleichzeitig von der öffentlichen Hand
errichtet wurden, gotisch (ab 1505).
Gotische Formen fanden bis weit ins 16. Jahr-
hundert hinein im Kunsthandwerk Anwen-
dung, weil es niedriger als Malerei oder Skulp-
tur eingestuft wurde. Ein charakteristisches
frühes Beispiel bilden die gotischen Intarsi-
8 Weil-Garris Posner/
d’Amico 1980,89.
9 Binding 1996,227ff.
10 Serlio 1545/11,67r-69r.
215