XIV
Der Beginn des zwanzigſten Jahrhunderts
ies vor allem anderen fällt einem Auge auf, das ein Beiſpiel künſtleriſcher Bemühung
D aus den erſten Jahrzehnten des zwanzigſten Jahrhunderts mit einem Bild noch aus
dem neunzehnten Jahrhundert vergleicht: daß in unſeren Tagen aus Malereien, Zeich-
nungen, Bildnereien jene ſichtbaren, greifbaren, kenntlichen Dinge geſchwunden ſind, die vor-
dem in jedem Bildwerk mit Selbſtverſtändlichkeit enthalten waren. Ein konkretes Beiſpiel
ſagt ſogleich, was hier mit allgemeinen Worten angedeutet iſt. Man entſinne ſich eines be-
liebigen Bildes des Guſta ve Courbet: Apfel, Bäume, Rehe, Wellen, Felſen, Wieſen,
menſchliche Figuren ſind in ſeinen Bildern mit plaſtiſcher Gegenſtändlichkeit aufgeſtellt;
es iſt unmöglich, eine Sache, eine Figur Courbets zu mißkennen; alles und jedes iſt, was
es iſt. Mit dieſem ZJuſtand möge man den anderen zuſtand vergleichen, der aufs gegen-
ſätzlichſte etwa in einem Bilde von Pablo Picaſſo, Waſſili Kandinsky, Paul
Alee verkündet iſt; es bleibt unmöglich, üpfel und Wieſe, Waſſer und Fels, Baum und
Reh, Menſch und aus wiederzufinden; der Gegenſtand iſt verwiſcht, zerſprungen, auf-
gelöſt, verweht, verdunſtet; man findet etwa den Keſt eines Rades, eines Balkongitters,
den Steg einer Geige, die Sälfte eines Auges — den und jenen Splitter eines geweſenen,
verweſten Gegenſtandes; man findet nicht mehr den vollſtändigen Gegenſtand, nicht mehr
die Unverſehrtheit des Gegenſtandes, nicht mehr ſeine klar behauptete Exiſtenz; man findet
Reſte der gegenſtändlichen Welt in einem ſonderbaren Gemenge von Farben, Strichen,
Formen, Zalbformen — in einem Gemenge, von dem man nicht weiß, ob es ein Chaos
oder ein Syſtem iſt. }
Es wird eingewendet werden, die Beobachtung ſei wohl richtig, aber ſie umfaſſe nicht die
ganze Verfaſſung gegenwärtiger Kunſt; es gebe auch in der Runſt der letzten zwei oder
anderthalb Jahrzehnte noch einen beträchtlichen Vorrat gegenſtändlicher Darſtellung. Auf
dieſen Einwand iſt zu ſagen: wohl iſt das Gegenſtändliche nicht gänzlich aus der Kunſt ver-
ſchwunden; aber es kommt zunächſt darauf an, den radikalſten Typus der Kunſt unſeres
(noch immer unſeres) Zeitalters herauszuarbeiten; dieſer Typus iſt beiſpielsweiſe mit Namen
wie Picaſſo, Klee, Kandinsky, Marc Chagall bezeichnet.
Unter dieſer Vorausſetzung ergibt ſich als erſte Theſe der Betrachtung: die Kunſt des be-
ginnenden zwanzigſten Jahrhunderts iſt eine des kenntlichen ſinnlichen Gegenſtandes ent-
ledigte Kunſt.
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Der Beginn des zwanzigſten Jahrhunderts
ies vor allem anderen fällt einem Auge auf, das ein Beiſpiel künſtleriſcher Bemühung
D aus den erſten Jahrzehnten des zwanzigſten Jahrhunderts mit einem Bild noch aus
dem neunzehnten Jahrhundert vergleicht: daß in unſeren Tagen aus Malereien, Zeich-
nungen, Bildnereien jene ſichtbaren, greifbaren, kenntlichen Dinge geſchwunden ſind, die vor-
dem in jedem Bildwerk mit Selbſtverſtändlichkeit enthalten waren. Ein konkretes Beiſpiel
ſagt ſogleich, was hier mit allgemeinen Worten angedeutet iſt. Man entſinne ſich eines be-
liebigen Bildes des Guſta ve Courbet: Apfel, Bäume, Rehe, Wellen, Felſen, Wieſen,
menſchliche Figuren ſind in ſeinen Bildern mit plaſtiſcher Gegenſtändlichkeit aufgeſtellt;
es iſt unmöglich, eine Sache, eine Figur Courbets zu mißkennen; alles und jedes iſt, was
es iſt. Mit dieſem ZJuſtand möge man den anderen zuſtand vergleichen, der aufs gegen-
ſätzlichſte etwa in einem Bilde von Pablo Picaſſo, Waſſili Kandinsky, Paul
Alee verkündet iſt; es bleibt unmöglich, üpfel und Wieſe, Waſſer und Fels, Baum und
Reh, Menſch und aus wiederzufinden; der Gegenſtand iſt verwiſcht, zerſprungen, auf-
gelöſt, verweht, verdunſtet; man findet etwa den Keſt eines Rades, eines Balkongitters,
den Steg einer Geige, die Sälfte eines Auges — den und jenen Splitter eines geweſenen,
verweſten Gegenſtandes; man findet nicht mehr den vollſtändigen Gegenſtand, nicht mehr
die Unverſehrtheit des Gegenſtandes, nicht mehr ſeine klar behauptete Exiſtenz; man findet
Reſte der gegenſtändlichen Welt in einem ſonderbaren Gemenge von Farben, Strichen,
Formen, Zalbformen — in einem Gemenge, von dem man nicht weiß, ob es ein Chaos
oder ein Syſtem iſt. }
Es wird eingewendet werden, die Beobachtung ſei wohl richtig, aber ſie umfaſſe nicht die
ganze Verfaſſung gegenwärtiger Kunſt; es gebe auch in der Runſt der letzten zwei oder
anderthalb Jahrzehnte noch einen beträchtlichen Vorrat gegenſtändlicher Darſtellung. Auf
dieſen Einwand iſt zu ſagen: wohl iſt das Gegenſtändliche nicht gänzlich aus der Kunſt ver-
ſchwunden; aber es kommt zunächſt darauf an, den radikalſten Typus der Kunſt unſeres
(noch immer unſeres) Zeitalters herauszuarbeiten; dieſer Typus iſt beiſpielsweiſe mit Namen
wie Picaſſo, Klee, Kandinsky, Marc Chagall bezeichnet.
Unter dieſer Vorausſetzung ergibt ſich als erſte Theſe der Betrachtung: die Kunſt des be-
ginnenden zwanzigſten Jahrhunderts iſt eine des kenntlichen ſinnlichen Gegenſtandes ent-
ledigte Kunſt.
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