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Maistre Francois Yillon

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nach Paris zurück, wohl aus Furcht vor den Folgen des ersten Dieb-
stahls. 1457 finden wir ihn am Hofe des kunstliebenden Charles d’Orleans.
Seine Gegenwart im Dichterkreise des Herzogs, so befremdlich sie uns
nach den eben geschilderten Ereignissen sein mag, ist bezeugt durch
eine Ballade Villon’s, die in einer Handschrift der herzoglichen Bibliothek
erhalten ist und einer Laune des Fürsten ihre Entstehung verdankt.
Karl hatte in einer Art dichterischen Turniers, an dem er sich selbst
beteiligte, seinen Hofdichtern die Abfassung von Balladen über ein vor-
geschriebenes Thema auferlegt: „ie meurs de seuf aupres de la fon-
taine“, so fängt diese Ballade an, in der der Dichter zusammenhanglos
Antithesen häuft, eine Wortspielerei, die das ausgehende Mittelalter von
der höfischen Lyrik früherer Zeit geerbt hatte. In ebenfalls konven-
tionellen Formen bewegen sich zwei Balladen, in denen der „povre
escolier Francois“ die Geburt der Tochter Karls, Maria von Orleans,
feiert und zugleich die Gnade des Fürsten durch die Vermittelung der
neugeborenen Prinzessin anfleht. Die geschmacklosen Huldigungen blieben
aber erfolglos. Einige Spuren von Wanderungen durch Mittelfrankreich
bis Moulius, dem Herrschersitz des Herzogs Johann von Bourbon, haben
sich in den Gedichten Villon’s erhalten. *) 'Von Paris bis Roussillon (in
Dauphine) giebt es „weder Busch noch Gesträuch“, an dem nicht „ein
Fetzen seines Kittels hängt“. (Gr. Testam. v. 200 7 ff.) Auf diesen Wan-
derungen lernte Villon Mitglieder eines weitverzweigten, besonders in
Ostfrankreich „thätigen“ Geheimbundes von Gaunern, Dieben, den soge-
nannten „coquillards“ kennen. Diese wohlorganisierte Vereinigung, die
von einem „roi de la coquille“ geleitet wrar, ist uns aus gerichtlichen
Verhandlungen, die 1455 in Dijon stattfanden, näher bekannt.1 2) Die
Enthüllungen eines Mitgliedes der Coquille sind in das Protokoll auf-
genommen worden und geben uns wertvolle Aufschlüsse über den Jargon
der coquillards, eine seltsame Geheimsprache, reich an malerischen Wen-
dungen, die in das jammervolle Dasein dieser Elenden blicken lässt, für
die die Erde „la du re“, der Tag „la torture“, die Hand „la serre“
heissen.

Ein uns unbekanntes Vergehen, wahrscheinlich ein neuer Diebstahl,
liess Villon 1461 in Meun-sur-Loire verhaften und als Kleriker und
Gefangenen des Bischofs Thibaud d’Aussigny einschliessen. Aus dem
Dunkel des Kerkers schickt er an seine Freunde die Ballade „Aiez pitie,

1) S. G. Paris, Villon S. 60 f.

2) S. Marcel Schwöb, le jargon des Coquillards en 1455 (Mem. de la Soc. de
Linguist, de Paris, tome VII),

NEUE HEIDELB. JAHRBUECHER XI.

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