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Otto Honseil

I.

Reichenspergel' stellt sein Programm auf, indem er die gotische
Baukunst als die christlich-germanische bezeichnet.

Mit glühender Begeisterung steht er vor ihren Werken, voll innigster
Bewunderung preist er sie. Manchmal geschieht es freilich, dass er
darüber zu sehr das Sachliche vernachlässigt, Bestimmtheit vermissen
lässt und überhaupt zu viel Gedanken hineinlegt, die das Gebilde un-
mittelbar nicht giebt. — Die mittelalterliche Kunst erscheint ihm ein
Wunder aller Zeiten in Grösse, Schönheit und Tiefsinn, vorbildlich für
alle gleichzeitige Kunstübung. In ihren Werken sieht er die vollkom-
menste Annäherung an das Ideal eines Bauwerks: zweckmässige Ein-
richtung, dauerhafte Ausführung, bedeutungsvolle Anordnung und Klar-
heit, Einfachheit und Reichtum und lebensvoller Wechsel, Folgerichtig-
keit und Freiheit so vereinigt, das eine harmonische Gesamtwirkung
entsteht; das Einzelne ordnet sich dem Ganzen unter, und das Ganze
offenbart unzweideutig seine Bestimmung, seine höhere Idee. Kein Glied
tritt auf, das nicht durch die Gesamtkonstruktion bedingt ist und
darin seinen bestimmten Zweck zu erfüllen hat. Nichts ist willkürliche
Zuthat, angeflogene Verzierung. Er begründet dies mannigfach, an den
konstruktiven Elementen wie den vorwiegend schmückenden Teilen.x)
Als vollendete Kunst gilt ihm die Gotik deshalb, weil in ihr in rechtem
Masse Zweckmässigkeit und Schönheit, Freiheit und Notwendigkeit ver-
eint und durchdrungen sind. Dies setzt voraus, dass sie nirgends fertige
Formen an die Hand giebt, sondern nur allgemeine Gesetze und einfache
Konstruktionsprinzipien. Daher auch ihr Reichtum, ihre Fügsamkeit, da-
her die unendliche Reihe von Individualitäten, die sie gewährt, und eine
Fortbildung ins Unendliche. Dass jedes Gebilde auf eine innere Not-
wendigkeit hinweist und zugleich dem Kunstschönen angehört, hängt
ferner zusammen mit einer richtigen Anwendung des Materials. Alles
ist auch, was es scheint; und das nämliche gilt für Bauten jeder Gattung,
jedes Zwecks, es ist eben eine wahre Kunst. „Die Gesetze,“ sagt er,
„welche der Schöpfer in jede Menschenbrust gelegt hat, sind hier mit
klarem Verständnis erfasst und mit künstlerischer Hand in schlichter
anspruchsloser Weise zur Darstellung gebracht; das ist es, was ich ihre
Wahrhaftigkeit nenne.“

1) Besonders in einem Aufsatz „Über das Bildungsgesetz der gotischen
Kunst“ in den „Vermischten Schriften“, wo auch der beliebte aber verführerische
Vergleich mit der Musik nicht fehlt.
 
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