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Brodersen, Kai; Wink, Michael [Hrsg.]; Bartram, Claus R. [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Vererbung und Milieu — Berlin [u.a.], 45.2001

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https://doi.org/10.11588/diglit.4063#0109

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Wie entwickelt sich die kindliche Persönlichkeit? 97

Querdenken notwendig: Es ist nicht mehr möglich nur biologische Psychiat-
rie oder nur biographische Erlebnisrekonstruktionen ohne Blick auf den Ge-
samtzusamrnenhang zu betreiben. Wir dürfen nicht Regelübertretungen zu
Krankheiten machen, nicht Risiken mit Symptomen verwechseln und adä-
quate Reaktionen des Kindes auf soziale und emotionale Missstände patho-
logisieren! (Resch 1998). Eine differenzierende Sichtweise ist notwendig,
kindliches Verhalten darf nicht nur ahistorisch unter naturwissenschaftli-
chen Gesichtspunkten als Ausdruck von Gehirnfunktionen betrachtet wer-
den. Ebenso wenig sinnvoll ist es bei der Bezugnahme auf die Lebensge-
schichte cerebrale Funktionen und deren Voraussetzungen für das Erleben
zu vernachlässigen. Die moderne Neurobiologie hat uns die Erkenntnis ge-
bracht, dass auch das Gehirn als Träger, Repräsentant und notwendige bio-
logische Voraussetzung aller psychischer Aktivitäten in Bau und Funktion
nicht nur seine Anlage, sondern auch die Geschichte eines individuellen Le-
bens widerspiegelt. Unter dem Begriff der neuronalen Plastizität wird das
Phänomen zusammengefasst, dass die Vernetzung einzelner Neuronen zu
übergeordneten Einheiten unter dem Einfluss erlebter Anpassungsgeschich-
te stattfindet. Das Gehirn folgt also in seinem grundsätzlichen Bauplan gene-
tischen Informationen, aber die Nervenzellen bilden funktionelle Systeme,
welche die Informationen aus der Außenwelt sowie der Innenwelt des Kör-
pers registrierend verarbeiten und speichern. Netzwerke können überge-
ordnete Systeme bilden, die wiederum Kooperativität zeigen, um spezifische
neurobiologische Adaptationsleistungen zu ermöglichen. Das Gehirn ist
nicht wie eine passive Kamera zu sehen, es registriert erhaltene Informatio-
nen nicht lediglich, sondern erzeugt die Phänomene, die es erkennt und
wiedererkennt mit. Das Gehirn ist damit eher ein Interpretationssystem, das
in integrativer Weise Information schafft und verarbeitet. Die Ausbildung
solcher funktioneller Netzwerke kann als Grundlage psychischer Strukturen
gesehen werden (siehe auch Nelson und Bloom 1997). Alles Leben und Erle-
ben erzeugt eine Gedächtnisspur in Form eines Schemas an das neue Infor-
mation assimiliert werden kann. Den Erfahrungsbeständen über den Ent-
wicklungsverlauf des Kindes kann also ein neuronales Substrat zugrunde
gelegt werden. Die neuronale Plastizität legt nahe, dass ein Mangel an not-
wendigen Erfahrungen (z.B. bei emotionaler Vernachlässigung) in frühen
Stadien der Entwicklung irreversible oder nur schwer reversible Fehlbildun-
gen der Entwicklung neurobiologischer Schemata bewirken könnte. Beein-
trächtigungen der Persönlichkeitsentwicklung und Vulnerabilitäten für spä-
tere psychische Krankheiten werden auf diese Weise verständlich gemacht
(Resch 1999).

Die Entwicklung der kindlichen Seele vollzieht sich in einer interaktionei-
len Matrix. Wir fassen die Selbstwerdung des Kindes als einen Weg von au-
ßen nach innen, von der Interaktion zum inneren Konstrukt derselben auf.
 
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