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Brodersen, Kai; Wink, Michael [Editor]; Bartram, Claus R. [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Vererbung und Milieu — Berlin [u.a.], 45.2001

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4063#0265

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Gespenst der Vererbung, Moira des Milieus 253

Das naturalistische Frühwerk Gerhart Hauptmanns:
„Bahnwärter Thiel"

Auch in Gerhart Hauptmanns Novelle „Bahnwärter Thiel" (1888) werden
menschliche und umweltliche Determinanten einer minuziösen Analyse un-
terworfen. Näherhin untersucht die „novellistische Studie", wie die diver-
genten Anlagen von Thiels Charakter - Phlegma und sexuelle Hörigkeit zum
einen, mystische Begeisterungsfähigkeit und Sehnsucht nach dem Heilig-
Unberührbaren zum anderen - unter dem katalytischen Einfluss einer „un-
erhörten Begebenheit" miteinander reagieren. Der charakterlichen Ambiva-
lenz des Bahnwärters entsprechen in der Novelle die beiden Milieus oder
Sphären,122 zwischen denen Thiel sein Leben verbringt: dem in der Nacht zur
Kapelle umgestalteten Wärterhäuschen, wo Thiel ekstatische Visionen sei-
ner bei der Geburt des Sohnes Tobias verstorbenen ersten Frau Minna hat,
steht das Wohnhaus gegenüber, in dem Thiels zweite Frau Lene das Re-
giment führt. Ganz im Gegensatz zu dem feingliedrigen und vergeistigten
Frauentyp Minnas verkörpert Lene eine „brutale Leidenschaftlichkeit",123 die
von Thiel als unumstößliches Naturgesetz erlebt wird: Durch die „Macht ro-
her Triebe" wird er alsbald von ihr „abhängig" und ist unfähig, der aggressi-
ven Sexualität, die von Lenes geblähten Gliedern ausstrahlt, zu widerstehen:

„Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel
sich nicht gewachsen fühlte. Leicht gleich einem feinen Spinnengewebe und doch fest wie
ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd, überwindend, erschlaffend".

Der Vergleich mit einem Spinnen-Netz, dem klassischen Angstsymbol ei-
ner verstrickend übermächtigen Mutter und einer femme fatale, wird an
späterer Stelle wiederholt, dort in Konstellation mit den Telegraphenstangen
der Eisenbahngeleise. Auf diese Weise wird die wild heranrauschende Bahn,
das Dingsymbol der „novellistischen Studie", mit jener durch nichts aufzu-
haltenden Triebkraft enggeführt, die Thiel zu seiner Frau drängt und ihn
gleichzeitig von ihr abstößt, weswegen er sein Wärterhaus als „sein Heiligstes"
von Lene rein halten will.125 In der Tat wird in dem Moment, da die Erdfrau
und „Maschine"126 Lene in das Wärterhäuschen eindringt, die Katastrophe
ausgelöst: Thiels und Minnas Sohn Tobias wird von einer heranbrausenden
Eisenbahn überrollt - als hätte jenes schicksalhafte Ungeheuer, das aus der

124
125
126

Der Begriff des „Milieus" ist hier mit Vorsicht zu gebrauchen. Mahal, Experiment zwi-
schen Geleisen, 202 betont zwar die Orientierung an Zolas Experimentalpoetik, meint
aber, dass „die Bedeutung von Milieu und Sozialbindungen in dieser Novelle" von der
Forschung „überschätzt" worden seien. Der Wärter pflege keinerlei Kontakte zu seiner
näheren Umgebung, sei aus sozialer Sicht also nachgerade milieulos (ebd., Anm. 29).
Hauptmann, GW 1, 225.
Ebd., 236.
Ebd., 240.
Ebd., 247.
 
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