280 Helmuth Kiesel
lung expressionistischer Lyrik, die 1919 unter dem Titel .Menschheits-
dämmerung' erschien,57 enthält Gedichte von 23 Autoren; davon waren
10 Juden. Eine neuere, ebenfalls um Repräsentativität bemühte Sammlung
expressionistischer Lyrik58 enthält Gedichte von 52 Autoren; davon waren
14 Juden. Eine wiederum repräsentative Auswahl expressionistischer Lite-
ratur59 aller drei Hauptgattungen (Lyrik, Epik, Dramatik) bietet Texte von
27 Autoren; von ihnen waren 11 Juden. In jedem Fall ist der prozentuale
Anteil vielfach höher als der verschwindend geringe prozentuale Anteil
der Juden an der Gesamtbevölkerung Deutschlands (nicht ganz 1 Prozent)
und auch noch deutlich höher als der prozentuale Anteil der Juden an der
Bevölkerung von Berlin (etwas mehr als 4 Prozent), für den Fall, dass man
den Expressionismus als ein genuin großstädtisches Phänomen halten
und Berlin als sein Zentrum betrachten will.
4. Als Robert Musil 1933 versuchte, Klarheit über die Bedeutung der natio-
nalsozialistischen .Machtergreifung' zu gewinnen, ging er auch der Frage
nach, inwiefern die deutsche Kultur „verjudet" war,60 wie die National-
sozialisten behaupteten. Neben dem Verlagswesen und der Publizistik
fasste auch er die Literatur ins Auge und stellte zwei Listen von Autoren
auf, die für die „geistige Bildung" seiner Generation von besonderer Be-
deutung waren. Für die Zeit bis 1900 lautet sein Befund: „kaum ein einzi-
ger Jude darunter!" Danach aber ändert sich das Bild. Als bedeutende
Autoren der Zeit nach 1900 nennt Musil; „Th. Mann, H[.] Mann, Hof-
mannsthal, Schnitzler, Altenberg, Kraus, Hauptmann, Stehr, Wasser-
mann, Hesse, Rilke, George, Roth, Döblin, Musfil]., Flake, Benn, Brecht,
Kaiser, Borchardt[,] Werfel". Danach folgt eine Einteilung in Juden und
NichtJuden: „11 [oder] 12 Arier / 6 [oder] 5 Juden / 2 Halbjuden".01 Das
heißt, dass - nach Auskunft eines Literaten von Rang und Urteil - auch in
der Gruppe der bedeutendsten Autoren des ersten Drittels des 20. Jahr-
hunderts (oder der sogenannten klassischen Moderne) mehr als ein Drit-
tel Juden waren (wobei Franz Kafka und Else Lasker-Schüler, die - Benn
zufolge - die „größte Lyrikerin" war, „die Deutschland je hatte",62 noch
nicht einmal mitgerechnet sind). - Neuere und genauere Studien über die
Wiener Moderne,63 die für die Entfaltung der Moderne von besonderer
57 Vgl. Pinthus, Menschheitsdämmerung.
5 Vgl. Bode, Gedichte des Expressionismus.
39 Vgl. Best, Expressionismus und Dadaismus.
° Vgl. Musil, Bedenken eines Langsamen, 1428. - Musil verwendet die Vokabel „verjudet" zi-
tatweise und mit einem sarkastischen Kommentar.
61 Ebd., 1429.
2 So Benn 1952 in seiner Rede Erinnerungen an Else Lasker-Schüler. vgl. Benn, Sämtliche
Werke 6, 55.
63 Vgl. Beller, Wien und die Juden; Le Rider, Das Ende der Illusion.
lung expressionistischer Lyrik, die 1919 unter dem Titel .Menschheits-
dämmerung' erschien,57 enthält Gedichte von 23 Autoren; davon waren
10 Juden. Eine neuere, ebenfalls um Repräsentativität bemühte Sammlung
expressionistischer Lyrik58 enthält Gedichte von 52 Autoren; davon waren
14 Juden. Eine wiederum repräsentative Auswahl expressionistischer Lite-
ratur59 aller drei Hauptgattungen (Lyrik, Epik, Dramatik) bietet Texte von
27 Autoren; von ihnen waren 11 Juden. In jedem Fall ist der prozentuale
Anteil vielfach höher als der verschwindend geringe prozentuale Anteil
der Juden an der Gesamtbevölkerung Deutschlands (nicht ganz 1 Prozent)
und auch noch deutlich höher als der prozentuale Anteil der Juden an der
Bevölkerung von Berlin (etwas mehr als 4 Prozent), für den Fall, dass man
den Expressionismus als ein genuin großstädtisches Phänomen halten
und Berlin als sein Zentrum betrachten will.
4. Als Robert Musil 1933 versuchte, Klarheit über die Bedeutung der natio-
nalsozialistischen .Machtergreifung' zu gewinnen, ging er auch der Frage
nach, inwiefern die deutsche Kultur „verjudet" war,60 wie die National-
sozialisten behaupteten. Neben dem Verlagswesen und der Publizistik
fasste auch er die Literatur ins Auge und stellte zwei Listen von Autoren
auf, die für die „geistige Bildung" seiner Generation von besonderer Be-
deutung waren. Für die Zeit bis 1900 lautet sein Befund: „kaum ein einzi-
ger Jude darunter!" Danach aber ändert sich das Bild. Als bedeutende
Autoren der Zeit nach 1900 nennt Musil; „Th. Mann, H[.] Mann, Hof-
mannsthal, Schnitzler, Altenberg, Kraus, Hauptmann, Stehr, Wasser-
mann, Hesse, Rilke, George, Roth, Döblin, Musfil]., Flake, Benn, Brecht,
Kaiser, Borchardt[,] Werfel". Danach folgt eine Einteilung in Juden und
NichtJuden: „11 [oder] 12 Arier / 6 [oder] 5 Juden / 2 Halbjuden".01 Das
heißt, dass - nach Auskunft eines Literaten von Rang und Urteil - auch in
der Gruppe der bedeutendsten Autoren des ersten Drittels des 20. Jahr-
hunderts (oder der sogenannten klassischen Moderne) mehr als ein Drit-
tel Juden waren (wobei Franz Kafka und Else Lasker-Schüler, die - Benn
zufolge - die „größte Lyrikerin" war, „die Deutschland je hatte",62 noch
nicht einmal mitgerechnet sind). - Neuere und genauere Studien über die
Wiener Moderne,63 die für die Entfaltung der Moderne von besonderer
57 Vgl. Pinthus, Menschheitsdämmerung.
5 Vgl. Bode, Gedichte des Expressionismus.
39 Vgl. Best, Expressionismus und Dadaismus.
° Vgl. Musil, Bedenken eines Langsamen, 1428. - Musil verwendet die Vokabel „verjudet" zi-
tatweise und mit einem sarkastischen Kommentar.
61 Ebd., 1429.
2 So Benn 1952 in seiner Rede Erinnerungen an Else Lasker-Schüler. vgl. Benn, Sämtliche
Werke 6, 55.
63 Vgl. Beller, Wien und die Juden; Le Rider, Das Ende der Illusion.