Lessings „Nathan der Weise"
im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam
KARL-JOSEF KUSCHEL
I Die Aktualität des „Nathan"
„Timelessness is a good thing in a play, but timeliness is better. The i8th-cen-
tury drama ,Nathan the wise' wins on both counts." Besser als der Theater-
kritiker der New York Times, der am 20. Oktober 2002, gut ein Jahr nach dem
„11. September", eine Aufführung von „Nathan der Weise" am Pearl Theater in
New York besprach, kann man Lessings Stück nicht charakterisieren: „Zeitlo-
sigkeit ist gut, Zeitgemäßheit ist besser. Das 18. Jahrhundert-Drama .Nathan
der Weise' gewinnt in beider Hinsicht." Warum? „Das Stück, das Spannungen
zwischen Christen, Muslimen und Juden dramatisiert, verliert schwerlich sei-
ne Dringlichkeit im heutigen weltpolitischen Klima." In der Tat: Nicht nur in
New York wurde „Nathan der Weise" gespielt - in Reaktion auf „Nine Eleven".
Nach dem 11. September 2001 hat es auf deutschsprachigen Bühnen nicht we-
niger als 24 „Nathan"-Inszenierungen gegeben!1 Entweder waren sie schon
vorher geplant (wie in Dresden, Magdeburg oder Rostock) und gewannen
plötzlich „brennende Aktualität"2 oder wurden spontan ins Programm ge-
nommen wie von Claus Peymann und seinem Berliner Ensemble.
Angesichts der hochdramatischen weltpolitischen Ereignisse konnte die
Reaktion der Kritik nur äußerst gegensätzlich sein. Und doch blieb die Mei-
nung, „durch Auschwitz und die Zerstörung der New Yorker Zwillingstürme"
sei die Sache des Stückes „widerlegt", ja eine Wiederaufführung des „Nathan"
gelinge heute nur „um den Preis, dass die Intentionen des Autors ins Gegenteil
verkehrt" würden, eher die Ausnahme.3 Für die meisten Kritiker standen die
Eine Dokumentation dazu ist zu finden in: Wer spielt was? Werkstatistik 2001/2002. Deutschland - Öster-
reich - Schweiz, hrsg. v. Deutschen Bühnenverein - Bundesverband Deutscher Theater, Köln 2003. Von
den Mitarbeitern des Lessing-Archivs in Kamenz bekam ich dankenswerterweise die publizistischen Re-
aktionen auf die jüngsten „Nathan"-Inszenierungen auf deutschen Bühnen zur Verfügung gestellt, die
ich im Folgenden auswerten konnte. Grundlage der folgenden Ausführungen sind meine beiden Studien:
Kusche] 1998 und 2004.
Elbe-Report (Magdeburg) vom 9.1.2001 (K. Kunze).
So anlässlich einer „Nathan"-Aufführung des Ulmer Theaters in Villingen-Schwenningen in: Schwarz-
wälder Bote vom 28.1.2002 (F. Schuck).
im Konfliktfeld von Judentum, Christentum und Islam
KARL-JOSEF KUSCHEL
I Die Aktualität des „Nathan"
„Timelessness is a good thing in a play, but timeliness is better. The i8th-cen-
tury drama ,Nathan the wise' wins on both counts." Besser als der Theater-
kritiker der New York Times, der am 20. Oktober 2002, gut ein Jahr nach dem
„11. September", eine Aufführung von „Nathan der Weise" am Pearl Theater in
New York besprach, kann man Lessings Stück nicht charakterisieren: „Zeitlo-
sigkeit ist gut, Zeitgemäßheit ist besser. Das 18. Jahrhundert-Drama .Nathan
der Weise' gewinnt in beider Hinsicht." Warum? „Das Stück, das Spannungen
zwischen Christen, Muslimen und Juden dramatisiert, verliert schwerlich sei-
ne Dringlichkeit im heutigen weltpolitischen Klima." In der Tat: Nicht nur in
New York wurde „Nathan der Weise" gespielt - in Reaktion auf „Nine Eleven".
Nach dem 11. September 2001 hat es auf deutschsprachigen Bühnen nicht we-
niger als 24 „Nathan"-Inszenierungen gegeben!1 Entweder waren sie schon
vorher geplant (wie in Dresden, Magdeburg oder Rostock) und gewannen
plötzlich „brennende Aktualität"2 oder wurden spontan ins Programm ge-
nommen wie von Claus Peymann und seinem Berliner Ensemble.
Angesichts der hochdramatischen weltpolitischen Ereignisse konnte die
Reaktion der Kritik nur äußerst gegensätzlich sein. Und doch blieb die Mei-
nung, „durch Auschwitz und die Zerstörung der New Yorker Zwillingstürme"
sei die Sache des Stückes „widerlegt", ja eine Wiederaufführung des „Nathan"
gelinge heute nur „um den Preis, dass die Intentionen des Autors ins Gegenteil
verkehrt" würden, eher die Ausnahme.3 Für die meisten Kritiker standen die
Eine Dokumentation dazu ist zu finden in: Wer spielt was? Werkstatistik 2001/2002. Deutschland - Öster-
reich - Schweiz, hrsg. v. Deutschen Bühnenverein - Bundesverband Deutscher Theater, Köln 2003. Von
den Mitarbeitern des Lessing-Archivs in Kamenz bekam ich dankenswerterweise die publizistischen Re-
aktionen auf die jüngsten „Nathan"-Inszenierungen auf deutschen Bühnen zur Verfügung gestellt, die
ich im Folgenden auswerten konnte. Grundlage der folgenden Ausführungen sind meine beiden Studien:
Kusche] 1998 und 2004.
Elbe-Report (Magdeburg) vom 9.1.2001 (K. Kunze).
So anlässlich einer „Nathan"-Aufführung des Ulmer Theaters in Villingen-Schwenningen in: Schwarz-
wälder Bote vom 28.1.2002 (F. Schuck).