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Heidelberger Familienblätter — 1878

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No. 79 - No. 87 (2. October - 30. October)
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https://doi.org/10.11588/diglit.43708#0336

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Und dann dachte ſie wieder, und ein Ausdruck
weicherer Theilnahme lag in dem Blick, den jetzt, nachdem
ſich der kleine Zug geordnet und in den ſchmalen Wald-
pfad eingelenkt, verſtohlen auf den Voranſchreitenden haf-
zen ließ, ſie dachte daran, wie dieſe ernſten Augen ſchon
beim erſten Zuſammentreffen gleichſam befremdet, aber
dann immer ſichtlicher mit ſtill beobachtendem Intereſſe
auf dem kleinen Familienbilde verweilt, wie er erſt nach
und nach in den einfachen Beziehungen deſſelben ſich zu-
rechtgefunden habe, und wie ſein Betragen, wenn gleich
in keiner Weiſe gegen Sitte und Form verſtoßend, den-
noch auf ein gewiſſes Fremdſein in den alltäglichen Re-
gionen der Geſelligkeit ſchließen ließ. Und darauf hin
ſchloß ſie weiter und meinte: wer, wie er, Jahre hin-
durch draußen, weit uͤber Land und Meer die Welt durch-
ſtreift, und nun, bald nach der Rückkehr wieder einſam
die Berge durchwandere, der müͤſſe auch im Vaterlande
kein Heim und kein Herz gefunden haben, wo's ihm warm
und wohl werden und er ausruhen könne von den Mühen
und Gefahren der Weltfahrt.
Das war ein bedenkliches Sinnen und Grübeln für
den ſchönen, blonden Maͤdchenkopf — gut, daß eben jetzt
bei einer Wendung des ſanft anſteigenden Pfades der
Wald ſich öffnete und den Blick freiließ in tiefe, einſame,
ſchon vom erſten zarten Abendhauch umwallte Thäler,
und drüberhin auf ragende Bergkuppen, glühend im vollen
Licht des ſpäten Sonnengoldes — einen Blick in die
ganze, überwältigende Pracht der Bergnatur, vor deren
Zauber das eigene Wollen und Wähnen, das eigene
Glück und Weh der reinen Menſchenſeele verſinkt und
ör denz in ein einziges, unnennbares Gefühl ſeligen
riedens. —
Aber Frau Galathea, unzugänglich für ſolchen Zau-
ber, duldete kein langes Zögern, ſie trieb zur Eile und
gönnte ſich ſelbſt und den Uebrigen erſt Raſt, als nach
etwa dreiſtuͤndiger Wanderung der Hirſchjäger erreicht
war, ein nettes, kleines Hospiz, vor wenigen Jahren neu
in einer geſchützten Senkung des Gebirgskammes erbaut
und genügend komfortabel ausgeſtattet, um auch die ver-
wöhnten Kinder der Reſidenz zufriedenzuſtellen und dem
weitgereiſten Fremdling manche lächelnde Vergleichung
mit den primitiven Gauchoherbergen der Pampas oder

den einfachen Blockhütten nordamerikaniſcher Wildniſſe

nahe zu legen. Und wie dieſe Andeutungen erſt das
regere Intereſſe der Damen, auch Frau Galatheas, wach-
gerufen, und der kleine, heitere Kreis, um den Abendliſch
gereiht, den die mildere Luft im Freien aufzuſchlagen ge-
ſtattete, ſich immer unbefangener dem Genuß des Augen-
blicks hingab, da ward unter dem Einfluß ſolcher Um-
gebung und von den ſchüchternen Fragen und Bitten
blühender Lippen und leuchtender Augen geweckt, auch
der ſchweigſame Baſt lebendiger, und erzählte mit hin-
reißender Wärme von der glühenden Pracht der Tropen-
länder, von den Rieſenwäldern und Rieſenſtrömen des
transatlantiſchen Weſtens. Bild auf Bild zog bald in
ſtillem, beſtrickendem Reiz, bald in ernſter, ſchauriger Er-
habenheit der kleinen lauſchenden Tafelrunde vorüber.
Schauplatz und Stunde ſtimmten wunderbar zuſammen,
auch dem in der kühlſten Proſa des Alltagslebens be-
fangenen Gemüth erhöhte Empfänglichkeit fuͤr jene farben-
reichen Schilderungen zu geben, dem poetiſch fühlenden
aber eine ganze Zauberwelt zu öͤffnen.
Diruͤben über den weiten Ebenen verglomm langſam
das Abendroth; über den ſteilen Bergkuppen im Oſten
war längſt der Mond heraufgeſtiegen und ſchwamm groß
und ſilberrein über der ruhenden Erde. In den Zwerg-
ſichten flüͤſterte der Abendwind und der Bergquell mur-
melte eintönig durch den mooſigen Grund — eine ſanfte

Begleitung zu der ſonoren Stimme des Erzählers. Doris,
wie in ſüßen Traum verſunken, athmete kaum.
Aber ſie zuckte faſt erſchrocken auf, wie Phyllis jetzt
ein momentanes Schweigen mit der Bemerkung unterbrach,
ſie begreife kaum, wie dem, der ſo Großes und Herr-
liches geſchaut und genoſſen, die farbloſen, unſcheinbaren
Naturſcenen unſerer Zone noch irgend einen Reiz zu
bieten, ein wirkliches Intereſſe abzugewinnen vermöchten.
Wie kleinlich, wie unbedeutend müßten dieſe Berge, dieſe
Gewaͤſſer — wie ärmlich der Wald⸗ und Pflanzenwuchs
der heimiſchen Gegenden ihm erſcheinen! ö

(Fortſetzung folgt.)

Ber Unfall auf dem Piz Palü.

Der bekannte Afrika⸗Reiſende und Hochgebirgs-
Sportsman Dr. Paul Güßfeld in Berlin ſchreibt der
„Köln. Ztg.“ wie folgt: Vor Kurzem iſt durch viele
Zeitungen ein Bericht über einen Unglücksfall gegangen,

der ſich „bei der Beſteigung eines der Gletſcher der Ber-

ninagruppe“ zugetragen hat. Darin wird dem Manne,
welcher der Retter mehrerer Menſchenleben wurde, die

Schuld gegeben, die Kataſtrophe herbeigeführt zu haben.

Es iſt dies Hans Graß, der berühmteſte Führer der Oſt-
Schweiz, zu Pontreſina wohnhaft, und ſeiner Popularität
wegen auch ſolchen Beſuchern des Engadin bekannt, welche
keine Hochgebirgstouren unternahmen.
Während meiner diesjährigen Anweſenheit in Pontreſina
unternahmen am 26. Auguſt Frau Wainwright und ihr
Schwager Herr Wainwright eine Beſteigung des Piz Palũ
(3912 m. = 12 043 F.) mit Hans Graß und ſeinem
aͤlieren Bruder Chriſtel Graß als Führern. Der Berg
hat drei Spitzen, die mit einander durch einen ſcharfen,
von Oſt nach Weſt lang hingezogenen Schneegrat ver-
bunden nd. Man pflegt die ſämmtlichen Gipfel zu er-
ſteigen und iſt dadurch genöthigt, auf oder hart unter
dem Schneegrat herzugehen, in welchem der Nord⸗ und
der Suͤdhang des Piz Palu zuſammentreffen. Zu beiden
Seiten fallen die Hänge ſehr ſteil mehrere tauſend Fuß
tief ab, der nördliche zum Firngebiet des Morteraiſch-
Gletſchers, der ſüdliche zu dem des Palü⸗Gletſchers; der
Grat ſelbſt aber pflegt bei einiger Erfahrung keine
Schwierigkeiten zu bieten. ö
Die Reiſenden hatten den höchſten, in der Mitte
gelegenen Gipfel bereits verlaſſen und befanden ſich auf
dem Wege zur weſilichen Spitze; ſie waren in folgender
Reihenfolge am Seil befeſtigt: zuerſt ging Chriſtel, dann
ſolgten Herr W., Frau W., zuletzt kam Hans. Es ſoll
dicker Nebel geherrſcht haben, und ſtatt ein wenig unter-
halb des Grates auf der Südſeite zu bleiben, ſührte
Chriſtel zu nahe an die Schneide heran, als dieſe durch-
brach und Chriſtel, Herr und Frau W. mit einem Schlage
verſchwanden. „Wie die Vögel ſind ſie geflogen“, ſagte
mir Hans in ſeiner Schilderung am folgenden Tage.
In demſelben Moment, als der Sturz eintrat, warf ſich
Hans Graß, der ſich inſtinktiv etwas unterhalb der
Spuren ſeiner Vorderleute gehalten hatte, zurück und
hielt die drel Unglücklichen, die — einer unter dem an-
dern — in der Luft über dem Abgrund ſchwebten. Dem
Schneegrat zunächſt hing Frau W., die das Gewicht
ihres Schwagers und des zu unterſt befindlichen Chriſtel
mittelſt des um die Taille zuſammengeſchnürten Seiles
zu tragen hatte. Mein alter, ſo oft ſchon hart erprobter
Führer Hans war in einer furchtbaren Lage, deigte ſich
ihr aber gewachſen. Lange Zeit konnte er dem Gewicht
 
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