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Heidelberger Familienblätter — 1878

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No. 79 - No. 87 (2. October - 30. October)
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der brei Perſonen, das gewaltig an ihm zerrte, nicht
widerſtehen, auch nicht die Verunglückten hinaufziehen,
ſie nicht einmal erblicken, weil die Annäherung an die
trennende Schneide ihn kopfüber in den Abgrund geriſſen
hätte. Er verlor indeß die Ueberlegung nicht und rief
ſeinem Bruder zu, er möchte ſich um Alles in der Welt
eine Stufe in der abſchüſſigen Wand ſchlagen und dann
hinaufzukommen ſuchen. Das that der 60jͤhrige Mann
mit Hülfe des Gletſcherbeils, das der über ihm hängende
Herr Wainwright ihm zureichte; der beſonnene Engländer
war der Einzige von den Dreien geweſen, der ſein
Gletſcherbeil beim Sturz nicht losgelaſſen hatte; ein
ſchöner Beweis für ſeine Unerſchrockenheit. Mit dieſem
Beil arbeitete ſich Chriſtel bis zur Schneide hinauf, nach-
dem er zuvor noch gezwungen war, ſich vom Seile los-
zumachen, und nun zogen beide Führer die noch unten
Schwebenden in die Höhe. Es iſt nur eine Stimme
darüber, daß, nachdem das Unglück des Schneebruchs er-
folgt war, alle Betheiligten ſich wundervoll benommen
haben. Frau W. verhielt ſich ganz ruhig in ihrer furcht-
baren Lage, trotz der Schmerzen, die das Seil ihr ver-
urſachte; Herrn W. gebührt der Ruhm, das Gletſcherbeil
behalten zu haben, Chriſtel kam allein in die Höhe —
eine außerordentliche Leiſtung, und Hans als Retter
Aller verdient das höchſte Lob. Statt deſſen meldet einer
der Unberufenen, die über das Hochgebirge mitzuſprechen
belieben, Hans ſei mit dem Fuße ausgeglitten und habe
die Anderen in's Verderben gezogen. Es kommen zu
viele Landsleute nach Pontreſina, als daß eine ſolche Ent-
ſtellung von Thatſachen, nachdem ſie den Weg durch viele
deutſche Zeitungen gemacht, mit Stillſchweigen übergangen
werden dürfte. Ich fühle mich um ſo mehr dazu berufen,
für einen der erſten Führer, die es überhaupt gibt, ein-
zutreten, als ich den Mann beſſer kenne, denn irgend
ein Anderer, und in Gemeinſchaft mit ihm die ſcheinbar
verwegenſten Dinge gethan habe.
Schweizer Alpen⸗Clubs enthalten manche Schilderung un-
ſerer gemeinſamen Fahrten, aus denen genugſam hervor-
geht, daß ein ſolcher Mann auf einem Paluͤͤgrat wohl
ſchwerlich ausrutſcht, und noch vor wenigen Wochen ha-
ben wir die gefürchtete und öfter verſuchte „Bernina-
Scharte“ zum erſten Mal bezwungen und einen neuen
Zugang zum Piz Bernina vom Roſenthal aus geſchaffen.

Eine ganz andere Frage iſt es, ob das Unglück nicht

hätte vermieden werden können, und dieſe muß wohl be-
jaht werden.
geführt; Hans ſagt aus, daß er dem ſonſt ſo vorſichtigen
Bruder öfter zugerufen habe, ſich mehr links, von der
Schneide fort, zu halten. Man erinnert ſich, daß im
verfloſſenen Jahre ein ähnlicher Unfall auf dem Lyskamm
bei Zermatt ſich ereignet hat, aber mit dem traurigen
Ausgang des Todes aller Betheiligten. Das Durch-
brechen von Schneekämmen iſt eine nicht zu unterſchätzende
aber in den meiſten Fällen zu vermeidende Gefahr; der
Fehler, der gemacht wird, beſteht in der Regel darin, daß
man ſich keine Rechenſchaft von dem Vorhandenſein des
Ueberhangs gibt, oder daß man ſeine, von der Witterung
beeinflußte Tragfähigkeit überſchätzt.
In dieſem Jahre haben ſich mehrfach Unglücksfälle
im Gebiet der Hochalpen ereignet; der am Monte Ceve-
dale iſt am meiſten beſprochen worden. So tragiſch der
Fall iſt, ſo heilſam wirkt er vielleicht für die Zukunft.
Wo liegt die Nothwendigkeit, daß Jedermann Schnee-
berge erklimmt? So lange es unbekannt bleibt, daß das
Bergſteigen in den Hochalpen eine Kunſt iſt, die erlernt
ſein will wie jede andere, und die ſelbſt bei großer na-

türlicher Anlage erſt nach langer Zeit, von Vielen gar

nicht erlernt werden kann, werden Unglücksfälle vorkom-

Als Entſchuldigung wird der Nebel an-

Die Jahrbücher des

Mann hinaus!

men, die ſich hätten vermeiden laſſen. Es gibt nur we-
nige Fälle, gegen die wir Alle gleich wehrlos ſind, näm-
ich Eis⸗, Schnee⸗ und Steinlawinen, aber wie Wenige
ſind gerade darin umgekommen!
Wer nicht außergewöhnliche Uebung beſitzt und ſelbſt
einen guten Führer erſetzen kann, ſollte ſeine Beſteigung
ſtets allein mit zwei, ſpäter vielleicht mit einem Führer
unternehmen. Mehr als drei am Seil iſt meiſt vom
Uebel und nur da zuläſſig, wo höchſtens ein ſchlechter
Gänger Theil nimmt. Statt deſſen ſieht man, wie zu-
weilen zwei, ja, ſelbſt drei Anfänger ſich meiſt von ſchlech-

ten Führern (denn gute thun es ungern) in das Seil

nehmen laſſen und ohne zu wiſſen, was ſie thun, hin-

gehen, wo ſie's dann reut. ö
Die Alpenvereine ſollten es ſich zur beſonderen Pflicht

machen, gegen dieſe Art des Beſteigens vorzugehen und

ihre jüngeren Mitglieder belehren, wie ſie ſich einzurichten

haben, um der eigenen und fremden Familie erſchütternde
Verluſte zu erſparen. ö

Eine Gerichtsſeene.

Vor der Hilfs⸗Criminaldeputation des Berliner Stadt-
gerichts ſtand der Drehorgelſpieler Fiſtel mit ſeiner Ehe-
hälfte und einem Arbeiter Neumann unter der Anklage
der Beleidigung von Polizeibeamten und des Widerſtandes
gegen die Staatsgewalt. Der Angeklagte war eines
ſchönen Tages von einem Hofe der Gitſchinerſtraße, auf
welchem er ohne Berechtigung muſicirte, durch einen
Schutzmann heruntergewieſen worden, gerieth aber darob
ſo in Zorn, daß er den Schutzmann am Kragen packte
und mit Hilfe ſeiner Frau und des hinzugekommenen
Neumann einen mächtigen Straßenauflauf provocirte.
Fiſtel (mit theatraliſcher Grandezza am Schluß
ſeiner Vertheidigung): Seh'n Se, Herr Gerichtshof, ſo
war es und nich anders. Was die Schutzleute ſagen, is
Allens falſch; ſie haben uns an den Kragen gepackt und
denn ſind wir janz ruhig mit in die Wache gegangen.
Präſ.: Laſſen Sie die Zeugen hereinkommen.
Schutzmann Fiſcher beſtätigt die Ankluge im vollen
Umfange und fügt hinzu, daß er von dem Angeklagten

Fiſtel und anderen „Strolchen“ hart bedrängt worden ſei.

Prä ſ.: Bitte, unterlaſſen Sie hier ſolche Rede-
wendungen!
Angeklagter Fiſtel (wüthend auf die Bank ſchla-
gend): Wat hat er jeſagt? Strolche hat er jeſagt? Det
wird ja immer beſſer! Det laſſe ick mir nich jefallen und
werde augenblicklich det Lakal verlaſſen!
Präſ.: Angeklagter bleiben Sie hier und verhalten
Sie ſich ruhig, ſonſt muß ich Sie hinausführen laſſen.
Angekl.: Immer zu! Det wird ja immer doller!
Ick bin ein freier Mann und ſpiele meinen Leierkaſten,
aber „Strolch“ ſchimpfen von 'nem Konſtabler un raus-

ſchmeißen von 'nem königlichen Gerichtshof, det laſſe ick

mir nich jefallen und wenn Sie mir hundertmal inſpunnen!
(Er fuchtelt wüthend mit den Händen umher.)
Praäſ. (zu dem Gerichtsboten): Führen Sie den

Angekl.: Rühren Sie mir nich an, ſonſt können
Se was erleben! Ick laſſe mir nich rausſchmeißen und
wenn Se ſich uff'n Kopp ſtellen! ö
Der Angeklagte wehrt ſich ſo ſtandhaft, daß vier
Gerichtsboten hinzuſpringen und den Wüthenden gewalt-
ſam entfernen. Vom Corridor her hört man denſelben
noch mächtig lärmen und toben.
Inzwiſchen ſinkt Frau Fiſtel wimmernd und ſchluch-
zend zuſammen. Unter fortgeſetztem Thränenſtrom ſtößt
 
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