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Heidelberger Familienblätter — 1882

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No. 9 - No. 16 (1. Februar - 25. Februar)
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Heidelberger Familienblätter.

Velletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 10.

Samstag, den 4. Februar

litbe und Leideuſcheft.

Novelle von S. v. d. Horſt.
(Fortſetzung.)

Einen Augenblick zauderte der Bauer, dann ergriff er
den Kaſten und ging hinaus, um die Großmagd zu holen.
Mit welchen Empfindungen er den leeren Behälter in
ſeinen eigenen Schrank ſchloß, das zu ſchildern, wäre un-
möglich. Wenn der Alte wieder geſund wurde, — was
dann? Eine prickelnde Hitze lief bei dieſen Gedanken durch
ſeine Adern, — der kehrte nimmer, nimmer in's Leben
zurück.
Er ſtieß das Fenſter auf, ihm war's zum Erſticken.
Was er als Kind mechaniſch, als erwachſener Mann zu-
weilen in der Kirche gewohnheitsmäßig, ohne dabei etwas
zu denken, gethan hatte, das kam jetzt in der Stunde der
Anfechtung mit gewaltiger Macht über ſeine Seele. Wilm
betete ohne es zu wiſſen. „Großer Gott, hilf uns in dieſer
ſchrecklichen Noth!“ ö
Aber auch jetzt wechſelte er mit ſeiner Frau kein Wort.
Die Großmagd hatte der Ohnmächtigen geholfen, bis Lieſe,
zum Leben erwacht, in Krämpfe verfiel und ſich, bald
ſchluchzend, bald hell auflachend, am Boden wand wie im
Sterben. Die Dirne berichtete es voll Grauen, und Wilm
wandte ſich tief erſchüttert ab. Er-allein verſtand, was
in der Seele der Unglücklichen vorging.
Während dieſer ganzen langen troſtloſen Nacht wan-
derte er zwiſchen dem Lager des Sterbenden und ſeinem
Hauſe hin und her. Johanne ſaß bei ihrem Vater, —
Lieſe kauerte ſlumm im Winkel, und nur wenn ſich die
Lippen des Kranken bewegten, gab ſie ihm von der ver-
ordneten Medizin oder etwas friſches Waſſer, das ſie aus
der Küche holte.
Und Stunde um Stunde ging dahin, das Bewußtſein
des Alten war längſt erloſchen, er murmelte zuweilen halb
verſtändlich, meiſtens nur heiſere Laute, und als im Dorfe
die erſten Hähne krähten, da hatte ſich ſeine Seele los-
gerungen aus den Banden des Irdiſchen. Peter Bornholt,
der Birkenbauer, war todt, ſein junges Weib nach kaum
fünfmonatlicher Ehe ſchon wieder Wittwe geworden.
Ganz früh am Morgen erſchien die Equipage des
Arztes, er kam aber diesmal nicht allein, ſondern in Be-
gſeitung eines Kollegen, weder der eine noch der andere
von beiden Herren zeigte bei dem Empfang der Todes-
botſchaft das geringſte Erſtaunen, aber ſie ſahen ſich an
und duldeten während der nun folgenden Unterſuchung im
Zimmer keine dritte Perſon, dann befahl der zweite Arzt,
welcher ſich als Diſtriktsphyſikus einführte, ihm den Vogt
zu rufen.
Lieſe ſah mit großen Augen von einem zum andern.
„Den Vogt, — weßhalb? Was ſoll er hier?“
Der Beamte zuckte die Achſeln. „Rufen Sie ihn, Frau.“

herbei.

drei Männer im niederen Zimmer gegenüber, endlich nahm
der Phyſikus das Wort. 0 nb

Ein Knecht holte den beſtürzten Gebieter des Dorfes
Schweigend, mit ernſten Geſichtern ſtanden ſich die

„Habt Ihr Polizeimannſchaft im Dorfe, mein lieber
Vogt?“
„Die beiden Gensdarmen,“ ſtammelte
Bauer. „Aber was ſoll's damit, Herr?

entſetzt der
Iſt ein Ver-

brechen geſchehen?“

„Das fürchte ich, Vogt, ja ich bin ſogar vollkommen
davon überzeugt, nur fehlen bis jetzt die erforderlichen Be-
weiſe. Dieſer Todte iſt hier an Vergiftung geſtorben.“
Ein gellender Schrei trennte die Lippen der jungen
Frau. „Es iſt nicht wahr! — es iſt nicht wahr! — Er
hatte keinen einzigen Feind.“
Auch der Vogt ſchüttelte den Kopf. „Das begreife ich
nicht, Herr Doktor! mit Verlaub, wenn ein ungelehrter

Bauer dergleichen zu ſagen wagt. Peter Bornholt war im

ganzen Dorfe bei Jung und Alt gleicherweiſe beliebt.“
„Um deſto mehr verwickelt ſich die Sache, Vogt, das
Verbrechen bleibt unleuhbar. Aber kommen wir zu dem,
was ich ſagen wollte. Dies Haus muß bis zum Eintreffen
der gerichtlichen Unterſuchungskommiſſion geräumt und voll-
ſtändig abgeſperrt werden, der Todte bleibt unberührt,
ebenſo die Umgebung. Dazu brauche ich eben Eure thätige
Beihilfe, denn ich kann nicht von hier fortgehen, ehe die
Schlüſſel Euch überliefert worden ſind. Ihr müßt in

amtlicher Eigenſchaft für den Empfang derſelben und die

Bewachung des Hauſes haften.“
Der Vogt zitterte. Seine junge Würde als oberſter
Gebieter des Dorfes wurde durch dieſen Auftrag, dieſe
ganze Angelegenheit überhaupt in eine drückende Laſt ver-
wandelt. Peter Bornholt war vergiftet, und er ſollte ſeine
Leiche vor der Berührung der nächſten Verwandten behüten.
„Ich muß es,“ ſtammelte er ſchwitzend, „aber, — das
iſt doch gräßlich.“
Da legte Lieſe von hinten her die Hand auf des Arztes
Arm. „Und ich?“ fragte ſie tonlos, „ſoll ich auch fort
von hier ?“
„Sie können bis zum Abend oder ſpäteſtens bis mor-
gen Mittag doch ſehr wohl bei den Ihrigen in dem an-
deren Hauſe bleiben, Frau, nicht wahr? — Hier darf ich
keinen Menſchen zurücklaſſen.“ ö
„Nein,“ ſchrie ſie, „nein, ich gehe nicht dahin. Ich
bitte nicht um einen Platz an Wilms Tiſch, — lieber
ſterben.“ ö
Und außer ſich ſtürzte ſie fort bis zu dem großen
alten Baume, deſſen Aeſte krachend im Sturm an einander
ſchlugen, dort blieb ſie ſtehen, verwirrten Blickes, ohne
Athem. ö
Wohin in dieſer äußerſten Noth? Sie wußte es nur
zu wohl, kein Haus des ganzen Dorfes würde ſeine Thü-
ren der „Ungariſchen“ öffnen, — kein einziges.
Und doch ging ſie weiter, ohne Tuch, ohne Kopf-
bedeckung, mit offenem, ſturmzerſauſtem Haar und dem
Blick der Irrſinnigen, — langſam, ziellos, die Hände ge-
rungen, ſo bleich wie einſt vor Jahren ihre Mutter, als
ſie ſterbend durch dies Dorf kam. *
Da humpelte an zwei Krücken ein uraltes Mütterlein
des Weges, Marthe, die Hundertjährige. Auch in das
Armenhaus war die Kunde des Geſchehenen ſchon gedrungen
 
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