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Heidelberger Familienblätter — 1882

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No. 52 - No. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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heidelberger Fanilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 55.

Mittwoch, den 12. Juli

1882.

Endlith gefunden.

Eine alte Geſchichte von E. Greiner.
(Fortſetzung.)

Das Kirchenholz war ein uralter, zum Kirchenärar ge-
höriger Nadelholzbeſtand, der ſich, dicht an die kleinen
Hausgärten am hinteren Ende des Dorfes anſchließend,
wohl eine gute halbe Stunde weit erſtreckte. Ein vielfach
benutzter Fußpfad zog ſich durch das Gehölz, dem Wan-
derer, der nicht nöthig hatte, die den vielfachen Windungen
des Fluſſes folgende Chauſſee zu paſſiren, den Weg nach
der nächſten Stadt faſt zur Hälfte verkürzend. Es war
zu jeder Jahreszeit ein genußreicher Weg unter den alten
Fichten und Tannen hin, mochten ſie, in der heißen Sommer-
luft ſich badend, den ſtarkwürzigen Athem ausſtrömen, oder
wie heute den weißen Wintermantel umgehangen haben.
Steif und ſtumm wie Grenadiere, denen der Reif in den
ſtruppigen Bärten hängt, ſtanden ſie da, während eine von
Aſt zu Aſt hüpfende Krähe mit den ſchwarzen Augen neu-
gierig die einſame Wanderin muſterte, die mit geſenktem
Kopfe eiligen Schrittes daherkam.
Es war Flora, der nach den Erlebniſſen der letzten
Stunden die Stille des Waldes gar wohl that, wo kein
Laut ihren Gedankengang ſtörte und keine Begegnung mit
Menſchen ſie von ihrer Einkehr in ſich ſelber ablenkte.
Und dabei ſchien ſie es gar nicht zu bemerken, daß bereits
ſeit einer Weile die weißen Flocken dicht und dichter fielen
und den ſchon ohnehin winterlichen Weg immer mehr ver-
wehten. Wie oft bei jeder Tageszeit war ſie ihn in den
ſechs Jahren gewandert, während welcher ſie anfangs zur
Stütze und bald darauf als Pflegerin der verwittweten
Frau Heiſterberg ihre jetzige Stellung inne hatte, zu wel-
cher die Befürwortung ihres Taufpathen, des Doctor Wille,
ihr verholfen! Es war bei aller Arbeit, allen ſchweren
Tagen und durchwachten Nächten doch eine glückliche Zeit
geweſen, die ſie jetzt im Geiſte noch einmal durchlebte. Die
alte Frau, der ſie vor einem Jahr in tiefem, aufrichtigem
Schmerz die Augen zugedrückt, hatte es trotz der Strenge
ihres Weſens doch mütterlich wohl mit ihr gemeint, ihre
praktiſchen Fähigkeiten vervollkommnet und ihr alle Gelegen-
heit geboten, daneben auch ihren Geiſt fortzubilden. Wie
ſehr ſie ſelber aber Floras Charakter und Fähigkeiten zu
ſchätzen verſtand, das hatte die Verſtorbene am beſten da-
durch bewieſen, daß ſie noch auf ihrem Todtenbette den
einzigen Sohn ermahnt hatte, das in Freud und Leid er-
probte Mädchen nicht wieder von ſich zu laſſen. Und ſo
war denn Flora auch nach dem Tode der Hausfrau in
ihrer bisherigen Stellung verblieben und hatte es ſich an-
gelegen ſein laſſen, das Hausweſen im Sinne der Ver-
ſtorbenen weiter zu führen und es ihrem nunmehrigen
Herrn wenigſtens äußerlich nicht fühlbar werden zu laſſen,
daß er die liebevoll ſorgende Mutter verloren. Daß er
mit dieſer zugleich die treueſte Herzensfreundin, die ver-
ſtändnißvolle Theilnehmerin an allen ſeinen Beſtrebungen
und Unternehmungen eingebüßt, dies wußte niemand beſſer
als Flora, die jahrelang Zeuge des beglückenden Zuſammen-

lebens von Mutter und Sohn geweſen war, und ſie allein
war auch im Stande, zu ermeſſen, was ein ſolcher Verluſt
für einen Menſchen von des letzteren Herz und Sinn zu
bedeuten habe; denn ein Sonderling war und blieb der
jetzige Chef der alten, weit und breit renommirten Firma
Heinrich Fürchtegott Heiſterberg, mochten auch die Gerüchte
von ſeinen Eigenthümlichkeiten in den meiſten Fällen weit
übertrieben ſein. Aber wenn auch andere, die dem Manne
ferner ſtanden, deſſen zurückgezogenes Leben für Menſchen-
ſcheu und ſein umfangreiches Wiſſen für Ueberſpanntheit
auslegten, ſo wußten doch die Armen und Hilfsbedürftigen
in Stadt und Land, daß niemand ein wärmeres Herz für
ſeine bedrängten Brüder habe als er, der getadelte Menſchen-
feind, und der alte ſchweigſame Buchhalter hätte es allen
Zweiflern und Neidern ſchwarz auf weiß beweiſen können,
daß dem umfangreichen, blühenden Geſchäft kein Nachtheil
daraus erwuchs, wenn der Leiter deſſelben in ſeinen Muße-
ſtunden mit Vorliebe Künſte und Wiſſenſchaften pflegte.
Für Flora aber war er ein Weſen höherer Art, dem ſie
im geheimſten Schrein ihres Herzens einen Altar errichtet
hatte, und das ihre unbegrenzte Verehrung mit einem
Glorienſchein umwob. „Setze dir keine romantiſchen Grillen
in den Kopf“, hatte vorhin die Mutter gewarnt; ach, was
würde ſie erſt geſagt haben, hätte ſie gewußt, daß anſtatt
einer flüchtigen Grille im Kopf eine erſte, heiße Liebe in
dem Herzen ſchlummerte, die kein elterlicher Machtſpruch
auszureißen vermochte, ohne gleichzeitig das davon erfüllte
Herz ſelber zu brechen. „Arme Mutter,“ ſagte Flora bei
ſich ſelber, „ich kann dir ja den Gefallen nicht thun, bei
Gott, ich kann es nicht! Mag es mich auch immerhin um
eine geſicherte Lebensſtellung bringen, und werde ich mich,
wenn ich nicht jung ſterbe, bis in meine alten Tage von
meiner Hände Erwerb ſorgenvoll ernähren müſſen, ſo kann
ich doch mit dieſem Bilde im Herzen keines anderen Mannes
Weib werden, wenn es nicht ſein und mein Unglück werden
ſoll. Aber fort will ich, freiwillig fort aus ſeinem Hauſe,
ſeiner Nähe, um mir nicht den Selbſtvorwurf machen zu
müſſen, ich ſei zu feig geweſen, mein eigenes, ach ſo grenzen-
los thörichtes Herz zu bekämpfen. Und iſt es nicht tauſend-
mal beſſer und ehrenwerther, ich gehe von ſelber und gehe
gleich, ehe vielleicht eines Tages er oder eine junge Frau
mich gehen heißen? Seine Frau —“
Ein Schreckenslaut entfuhr den Lippen des Mädchens.
Heulend fuhr plötzlich ein Windſtoß durch den ſtillen Wald,
der ihr den Hut vom Kopfe riß und ſie in eine förmliche
Wolke von Schnee hüllte, den der Sturm von den ächzen-
den Bäumen ſchüttelte. Was war das? Die Hände vor
die Augen gedrückt, um ſie vor dem tollen Flockengewirbel
zu ſchützen, ſtrebte Flora mühſam vorwärts; doch nur we-
nige Schritte waren ihr möglich, denn als hätte jener
Windſtoß das Zeichen zur Eröffnung eines Naturkampfes
gegeben, brach jetzt ein Unwetter los, wie es das alte
Kirchenholz kaum je zuvor erlebt haben mochte. Wie eine
Schaar entfeſſelter Furien raſte der Sturm daher, einen
Hagel von Zweigen und Aeſten von den Bäumen ſchlitzend
und die alten prächtigen Stämme wie Kinderſpielzeug zer-
brechend. Ha, wie es brauſte und heulte, ſtürzte und
 
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