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Heidelberger Familienblätter — 1882

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No. 79 - No. 86 (4. October - 28. October)
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hridelberger Fanilirnblätter.

Belletriſtiſche Veilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 81.

Mittwoch, den 11. October

1882.

Ein Aluch.

Von S. v. d. Horſt.
(Fortſetzung.)

Anna erhob ſich ſchauernd. Sie ließ die Vorhänge
herab und entzündete zum zweiten Male das Licht. Es
lähmt den feſteſten Muth, ſo im Dunkel dazuſitzen und zu
grübeln, ſie fühlte es, ſie wehrte ſich gegen den Feind, ſo
lange es noch möglich war. ö
Da ſtand ihr Koffer, und in der Ecke ein großer
Schrank mit Schubladen und einer Klappe, hinter der ſich
Geheimfächer öffneten. Sie probirte den kleinen anſtecken-
den Schlüſſel, ſie unterſuchte die Hinterwände, als gelte es,
einen Schatz von unermeßlichem Werthe vor Räuberhänden
zu ſchützen, — gewiß, das Holz war feſt und das Schloß
ſeltſam altmodiſch conſtruirt, ſie konnte ihr Theuerſtes der
kleinen geheimen Kaſſette anvertrauen. An verborgener
Schnur unter dem Kleide hing eine ſchmale längliche Kapſel,
klein und glatt, von Silber mit eingravirten Verzierungen,
das junge Mädchen zog ſie hervor und löſte langſam den
Ring aus dem Seidenbande. Was war es, das die Finger
ſo feſt, ſo zärtlich umſchloſſen? Gold? Juwelen? —
Gewiß nicht. Für den niederen Erdenſtaub gibt es
keinen Platz an einem bebenden hochſchlagenden Herzen.
Anna wog das Kleinod in ihrer Hand. Sollte ſie die
Kapſel öffnen, ſollte ſie ſich auf's Neue verſenken in längſt
erlittenes unheilbares Leid? Solche Zeugen unſerer ſchwerſten
Kämpfe haben magiſche Gewalt, ſie ziehen hinab mit un-
ſichtbaren Händen in ein dunkles Reich voll Thränen und
Weh, ſie umfloren den Blick und ſtehlen uns diejenige
Widerſtandskraft, welche das Leben in jeder Stunde erfor-
dert. Wer hätte es nicht erfahren, mit welchen Zauber-
augen uns ein bekanntes altes Bild plötzlich anzuſehen ver-
mag, wer ging nicht ſchon am ſtillen Sommerabend durch
eine dunkle Straße voll hoher grauer Häuſer und hörte
aus einem Thorweg hervor die Orgel ein Lied ſpielen, das
einſt in vergangenen Tagen eine geliebte Stimme ihm ſang,
das er früher ſchon vernahm, während eine warme Hand
zärtlich in der ſeinen lag? —
„All die alten Wunden bluten.“ Der Krüppel bei der
Orgel erhält eine reiche Spende, aber das Auge iſt feucht
geworden und das Herz bebt. Die Zeugen unſerer trüben
Stunden ſind gefährliche Feinde, ihre Macht erſchüttert den
feſteſten Muth. ö
Anna nahm die Kapſel und legte ſie zögernd in das
Geheimfach, den Schlüſſel befeſtigte ſie an der Schnur,
welche wieder um den Hals gelegt wurde. Jetzt war das
ſchöne ſtolze Geſicht auffallend blaß, die Finger taſteten
zuweilen unſicher, als ſei der Gedanke mit anderen, ganz
anderen Angelegenheiten beſchäftigt, ö
Und dann, nachdem der Inhalt des Koffers in den
Schrank hinübergeſchafft worden, löſchte ſie das Licht und
ſuchte ihr Lagee. Schlafen, ſchlafen, — das höchſte Glück
des Verlaſſenen, Hoffnungsloſen.
Ein verworrener Traum umgankelte ihre Sinne.
Einzeln, bunt durcheinander gemiſcht fielen die Mohnkörner,

aus denen Bilder des Glückes und der Angſt, des Er-
ſchreckens aufſprießen. Sie ſah immer das einſame Licht
in der Todtenkammer des alten Kloſters, aber es ſchien
durch grüne Waldwipfel, und ſonderbar vermummte Mönchs-
geſtalten kamen im langen Zuge geſchritten, auf ihren
Schultern den ſteinernen Sarg, in den Händen Weihkeſſel
und um die Hüften den Strick mit vielen ſpitzen Nägeln.
Immer glühte das Licht, die Kloſterbrüder ſangen, Schritt
um Schritt näherten ſie ſich einem offenen Grabe, — jetzt
ſah man auch den Todten. Ein Kind, ein ganz kleines
Kind im weißen Spitzenkleidchen, die Hände gefaltet, einen
Kranz von weißen Roſen auf dem goldigen Haar — —
Die Mönche ſangen, aber plötzlich lachte eine fremde
Siimme dazwiſchen hinein, und ein Männerantlitz beugte
ſich über den Sarg. „So viel Aufregung eines winzigen
noch bewußtloſen Geſchöpfes wegen, — das iſt Ueber-
treibung.“
Die Schlafende ächzte, ſie warf den Kopf von einer
Seite zur andern. „Heute wenigſtens laß die ruchloſen
Reden,“ murmelte ſie vor ſich hin. „Ein Grab iſt ein

Heiligthum, — du ſollteſt es wiſſen.“

Und dann drang aus ihrer Bruſt ein verhaltenes
Schluchzen. „Geh, geh, du haſt geſiegt, — mein Leben
liegt zerbrochen und zertreten vor deinen Füßen, hörſt du,
mein Leben! aber die Seele will ich retten. Sie iſt mein,
du kannſt nimmer ihre Bürde vor den Thron des Richters
bringen, — die Seele gehört dir nicht.“
Sie fuhr wild empor, ihre Augen waren weit geöffnet,
Traum und Wirklichkeit ſchienen untrennbar in einander
verflochten. „Wer iſt hier?“ flüſterte ſie voll unbeſieglicher
Furcht.
Niemand antwortete, aber im Nebenzimmer knarrte
eine Thür und Männertritte erklangen unmittelbar neben
der primitiven hölzernen Wand, mittels derer man den
großen Saal des ehemaligen Kloſters in eine Menge kleiner
Zimmer verwandelt hatte.
„Sprich leiſe, mein Sohn,“ ſagte eine milde angenehme
Stimme, „hinter dieſer Verſchalung ſchläft die neue Er-
zieherin, welche erſt heute Abend in unſer Haus gekommen
iſt. Eine Schönheit wie deine Mutter behauptet.“ ö
Ein Seufzer beantwortete zunächſt dieſen Satz. „Alſo
auch noch ein fremdes Geſicht, Vater, — wie unangenehm.
Aber freilich, ich bleibe nicht lange genug hier, um mich
über Kleinigkeiten erſt zu beunruhigen; mein Weg führt
nach dem Punkte der Erde, welcher von Deutſchland am
weiteſten entfernt iſt.“
Wie tief und kräftig die jugendliche Stimme erklang!
Ihr Wohllaut ließ den einigermaßen verletzenden Sinn der
Worte beinahe überhören. Anna wachte jetzte vollſtändig,
ſie konnte alles, was Vater und Sohn im Nebenzimmer
mit einander ſprachen, deutlich verſtehen, obwohl ſich die
Vorſtellungen des quälenden und ſo überaus lebhaften
Traums immer noch hineinmiſchten in den Kreis des wirk-
lich Vorhandenen. Ihr Herz ſchlug ſchneller, die Luft des
engen, rings verſchloſſenen Zimmers laſtete drückend auf
ihrer heißen Stirn. * ö
„Mein Otto,“ ſagte zärtlich der Rector, „du ſollteſt
 
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