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Heidelberger Familienblätter — 1882

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No. 87 - No. 95 (1. November - 29. November)
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Hridelberger Familienblütter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 87.

Mittwoch, den 1. November

1882.

Ein gluch.

Von S. v. d. Horſt.
(Fortſetzung.)

„Was jene Anna Mildener betrifft,“ las ſie laut und
ohne den Blick zu erheben, „ſo iſt ſie allerdings die Nichte

der höchſt ehrbaren und vortrefflichen Frau Scott aus

Brookſtreet, aber im übrigen kann ich dir leider in Bezug
auf dieſe junge Dame nichts Gutes mittheilen. Vor Jahren
kam ſie als ſiebzehnjähriges Mädchen aus Hamburg, wo
ihre Eltern leben, hierher, aber nur auf einige wenige
Wochen, dann war Fräulein Mildener eines Morgens ver-
ſchwunden, und obgleich Herr und Frau Scott alles auf-
boten, um die Sache dem Dienſtperſonal gegenüber als
eine ſchnelle Abreiſe hinzuſtellen, ſo wußten doch alle, daß
die junge Dame dem Hauſe ihrer Tante entflohen war.
Sie kehrte auch nicht zurück, zwiſchen Hamburg und Lon-
don flogen die Depeſchen hin und her wie Flocken im
Winter, aber Fräulein Mildener ließ während zweier Jahre
nichts von ſich hören, bis eines Tages ein Brief mit ihrer
Handſchrift an Frau Scott abgegeben wurde. James, der
Diener hörte den Schrei von den Lippen der alten Dame,
er mußte auch ſogleich den Herrn aus dem Kontor herbei-
holen und bemühte ſich nun, wie du dir denken kannſt,
auch ſeinerſeits von der bekannten Geſchichte etwas mehr
zu erfahren. Aber viel brachte er trotzdem nicht heraus;
Madame ſchluchzte unaufhörlich, und der Herr ging mit
großen Schritten im Zimmer auf und ab. „Wir müßten
die Eltern in Kenntniß ſetzen, beſte Mathilde, findeſt du
nicht auch?“ — Frau Scott hat weinend die Hände ge-
rungen. „Das führt zu nichts, Harry, ach lieber Gott,
das führt zu nichts. Ich kenne ja meinen Bruder, er hat
damals ſein unglückliches Kind verflucht, und das harte
Wort nimmt er auch nie wieder zurück. Anna findet eher
bei ganz Fremden eine Zuflucht als bei dem eigenen Vater.“
— „Nun,“ verſetzte energiſch Herr Scott, „dann handle
du nach deinem beſten Wiſſen und Gewiſſen, Mathilde.
Ich gebe dir gern ſoviel Geld, als du immer verlangſt,
willige in alles, nur hierher kann die Tochter deines Bru-
ders nicht kommen, das wirſt du ja einſehen. Lizzy und
Agnes ſind jetzt erwachſene Mädchen, — als was ſollten
wir ihnen die Couſine vorſtellen? Man iſt ſich da ſchließ-
lich ſelbſt der Nächſte, es geht eben nicht.“ — Und das
muß auch Madame gedacht haben, denn ſie fuhr noch am
ſelben Tage hinaus in ein Dorf unweit der Hauptſtadt,
und James begleitete ſie. Zwei Stunden hat der Wagen
vor einem ſehr beſcheiden ausſehenden Hauſe gewartet, dann
kam Frau Scott, tief verſchleiert, mit rothgeweinten Augen
die Treppen herab, und Fräulein Mildener folgte ihr.
Der Kutſcher mußte zum Kirchhof fahren, die beiden Da-
men gingen allein durch die Pforte, und James hatte Zeit
genug, einem dort herumlungernden Burſchen aufzutragen,
daß er den Frauen von Weitem folgen möge, um dann
den auf dem betreffenden Grabe ſtehenden Namen zu leſen
und ihm zu hinterbringen. Ein Trinkgeld ſchärfte den

Blick des Abgeſandten, er kam ſchon ſehr bald wieder auf
die Straße hinaus. „Ein Kindergrab, Sir, „Suſanne“
ſteht darauf, weiter nichts. Aber die beiden Ladies weinen
ſchrecklich, als könnte um ſo ein Würmchen gar die Welt
aus allen Fugen gehen, ich glaube, die Jüngere hatte einen
Krampfanfall. „Meines Vaters Fluch“, ſchluchzte ſie, „o
Tante, wie furchtbar iſt die Verheißung.“ — Das, meine
gute Cäcilie, wäre alles, was ich dir mittheilen kann, ein
weites Feld für Vermuthungen, aber deſto weniger Poſi-
tives; Fräulein Mildener iſt nie wieder nach Brookſtreet
gekommen, obgleich Frau Scott noch ein paarmal auf das
Dorf hinausfuhr, — ſeit zwei Monaten haben dieſe Touren
ganz aufgehört, natürlich, da Anna Mildener, wie du ſagſt,
in Deutſchland lebt. Eine ſeltſame Erzieherin für die
Töchter anſtändiger Häuſer in der That!“
Miß Prodder ſchwieg und ſchob ihren Brief in die
Taſche. „Es ſteht nun bei Ihnen, Herr Rektor, gegen
Fräulein Mildener von dem hier Behaupteten Gebrauch zu
machen oder nicht,“ ſagte ſie äußerlich ruhig. „Was mich
betrifft, ſo hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen in Ihrem
eigenſten Intereſſe die Augen zu öffnen, denn es könnte
doch immerhin Eltern geben, die ihre jungen Töchter in
ſolcher Gemeinſchaft lieber nicht ſähen.“ ö
Der Rektor zuckte die Achſeln. „Das iſt richtig,“ ge-
ſtand er, „aber die Sache ſchmerzt mich tief. Für die
Herzensreinheit dieſes Mädchens hätte ich getroſt meine
rechte Hand in das Feuer gelegt.“
Otto nickte mit blitzenden Augen ſeinem Vater zu. „Ich
thäte das auch jetzt noch,“ rief er. „Soll auf das Ge-
klätſch ſpionirender Bedienten hin ein Mädchen wie Anna
ungehört verurtheilt werden?“ ö
Die Rektorin ſah den Farbenwechſel auf ſeinem Antlitz,
die ganze heftige Aufregung, in der ſich ihr Sohn befand,
ſie reichte der Engländerin freundlich die Hand. „Es war
gut, daß Sie uns warnten, liebe Cäcilie, und ich danke
Ihnen von Herzen. Papa ſelbſt gibt zu, daß Dinge, wie
die hier vorliegenden, im Hauſe eines Lehrers, unter frem-
den anvertrauten Kindern keinen Raum haben, wir müſſen
alſo Fräulein Mildener, ſobald ſie kommt, offen fragen
und nach ihrer Antwort unſere Schlüſſe faſſen. Man ſchickt
ſie entweder ſogleich fort oder kündigt auf Michaelis den

Dienſt.“

Die gute Frau hatte geſehen, wie lebhaft ſich ihr älte-

ſter Sohn für die Gouvernante zu intereſſiren ſchien, ſie
wollte daher dieſelbe ſo raſch als möglich aus dem Hauſe
entfernen. Miß Prodder war für ihn die Rechte, die längſt
Beſtimmte, er ſollte keine andere heirathen als nur dieſe.
„Nicht wahr, Papa,“ fügte ſie hinzu, „ſo iſt es am
Beſten??ꝰ? * —
Der Rektor erhob ſich. „Mache das wie du willſt,
Mutter. Wer an einer moraliſchen Hinrichtung Vergnügen
findet, der vollziehe dieſelbe, — nur ich möchte damit ver-
ſchont bleiben. Anna Mildener iſt ein reines hochherziges
Weib, ſelbſt das Eingeſtändniß eines begangenen Fehlers

würde mich in dieſer Ueberzeugung nicht beirren können.“

Er wollte das Zimmer verlaſſen, als ſich plötzlich von
draußen die Thür öffnete, und die, von der alle ſprachen,
 
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