Heidelberger Familienblätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Ur. 35.
Mittwoch, den 3. Mai
1882.
Der Strifling.
Nach einer wahren Begebenheit von M. Flachs.
(Fortſetzung.)
„Nun, Hedwig, kaum biſt du in H. wieder angekom-
men, und ſchon machſt du intereſſante Bekanntſchaften, oder
waren dir Schulzes nicht mehr fremd 2“ mit dieſen Worten
wurde Hedwig von Julie empfangen, als ſich die Thür
kaum hinter ihr geſchloſſen hatte.
„Ich hatte nie zuvor von ihnen gehört, noch ſie je
geſehen.“
„Wie konnteſt du denn ſo ſchnell mit ihnen bekannt
werden, um eine halbe Stunde in vertraulichem Geſpräch
auf der Straße ſtehen zu bleiben? erzähle nur, wie
kam das?“ ö
„Ich ſollte eigentlich für deine Uebertreibung, mit der
du wenige Minuten in eine halbe Stunde verwandelſt, die
Geheimnißvolle ſpielen und deine Nengierde noch mehr
reizen, du ächte Tochter von Mutter Eva! aber ich will
einmal Gnade ſtatt Recht walten laſſen und dir alles
erzählen.“ ö
Und ſie erzählte ihr den Vorfall.
„Frau Schulz hat dich eingeladen, Hedchen? na, darauf
kannſt du dir was einbilden, denn ſie verkehrt mit Nie-
mand, obgleich es ihr hier in H. nicht an freundlichem
Entgegenkommen gefehlt hat. Wir ſind ſeit vier Jahren
ſchon Nachbarn, und anfangs habe ich mir wirklich Mühe
um ſie gegeben, aber ſie blieb unnahbar. Da hielt ich es
unter meiner Würde, noch weiter um ihre Gunſt zu wer-
ben, nehme ich als einzige Tochter des Bürgermeiſters und
reichſten Kaufherrn der Stadt H. doch eine ganz andere
Stellung ein, als dieſe ſchlichte unbedeutende alte Frau,
und es war mir lieb, daß der wirklich ſehr liebenswürdige
Sohn es nicht zu verlangen ſchien, daß man ſich um die
Alte bekümmern ſollte. Seit einem Jahre, wo Herr Schulz
durch einen Zufall mit Papa näher bekannt wurde und
uns oft beſucht, ſehe ich ihn faſt täglich, und ich will die
Langeweile, die alte unangenehme Frau unterhalten zu
müſſen, recht gern entbehren und dies ohne Neid anderen
überlaſſen.“ ö
ö „Mir erſchien ſie recht angenehm,“ antwortete Hedwig,
indem ſie ihren Hut ablegte, ſich Julie gegenüberſetzte und
eine Handarbeit hervorzog, „doch kenne ich ſie nicht weiter
und möchte jetzt mit dir von einer anderen Sache reden
und mir deine Verzeihung für eine — Nothlüge — er-
bitten.“
„Was? du, die Prieſterin der Wahrheit, haſt dich zu
einer Lüge verleiten laſſen? Da muß allerdings die Ver-
ſuchung ſtark an dich herangetreten ſein.“
„Das iſt ſie auch, denn Fritz dauerte mich gar zu ſehr.
Er ſchlug deines Vaters Einladung kurz ab und ſah da-
bei ſo unglücklich aus, daß ich ihn zu verſtehen glaubte.
Auf ſeine Frage, ob du kein Wort dazu geſagt habeſt,
antwortete ich, du habeſt ihn gleichfalls eingeladen. Aller-
dings war das nicht wahr, doch ich glaubte kein großes
ſich ſo benehmen?
Unrecht durch dieſe Lüge zu begehen und mir leicht deine
Verzeihung dafür zu verſchaffen, da ich wußte, wie dringend
du ihn früher einzuladen pflegteſt.“
Es klang durchaus nicht ſcherzhaft oder freundlich, als
Julie antwortete: „Du biſt doch wirklich noch recht kin-
diſch, Hedwig,“ doch als dieſe halb betrübt, halb verwun-
dert zu ihr herüberſchaute, reichte Julie ihr die Hand und
ſagte: „Nur nicht dieſe Armenſündermiene, Kleine, du ſollſt
Abſolution haben, und du weißt ja auch, in dieſem Hauſe
iſt dein Bruder immer willkommen, ich mag ihn nun ein-
geladen haben oder nicht.“ ö
Die Stunden vergingen den beiden jungen Mädchen
ſehr ſchnell, denn an Stoff zum Plaudern fehlte es nicht;
beſonders war Hedwig ſehr beredt und erzählte mit ſo
großem Eifer von den kleinen Ereigniſſen in der Penſion,
daß ſie darüber nicht bemerkte, wie Julie nur mit halbem
Ohr darauf hörte und das Geſpräch immer wieder auf
Hedwigs neueſtes Erlebniß zu bringen wußte und ſelbſt
immer wieder von dem intereſſanten Nachbar erzählte.
Es war dies für Julie ein ſo intereſſantes Kapitel, daß
ſie noch gern weiter darin fortgefahren wäre, und es ihr
viel zu früh war, als ihr Vater und Hedwigs Bruder
eintraten und demſelben ein Ende machten. Hedwig war
erſtaunt und betrübt, als ſie gewahrte, wie ſehr ſich das
Verhältniß zwiſchen den beiden Spielgefährten geändert
hatte. Es war ihr nicht unbekannt geblieben, daß Fritz
Julie als ſeine Braut betrachtete, aber konnte eine Braut
Hedwig hatte ſich ein ſolches Verhält-
niß ſo reizend poetiſch gedacht, aber was ſie da ſah, hatte
nichts Reizendes und nichts Poetiſches.
Hedwig ſaß neben dem alten Herrn, der ſich bemühte,
ſie auf ſeine joviale Weiſe zu unterhalten. Das Braut-
paar ſchien wenig Notiz von einander zu nehmen; Julie
ſtickte ſo fleißig, als müßte die Arbeit heute noch beendet
werden, und Fritz hatte nur Sinn für ſeine Cigarre, deren
luſtige Wolken und Ringe er eifrig zu beobachten ſchien.
Wer ihn indeß beobachtet hätte, würde bald bemerkt haben,
daß er dadurch die Aufmerkſamkeit maskiren wollte, die er
eigentlich nur für Julie hatte. Endlich ſchien er des
Spieles müde zu ſein, denn er warf den Reſt der Cigarre
in die vor ihm ſtehende Aſchenſchale, und ſich nahe zu
Julie beugend, ſagte er: „Weshalb haſt du mir das an-
gethan, Julie, und haſt mit Herrn Schulz eine Schlitten-
partie arrangirt?“ ö
„Nun, weil es mir Vergnügen macht; oder denkſt du,
die Langeweile in dieſem kleinen Neſte ſei noch nicht groß
genug für mich, da du mir ſogar eine kleine Abwechslung
mißgönnſt 2“
„Ich ſollte dir etwas, das dir Freude macht, miß-
gönnen? habe ich das je bewieſen?“ und ſich verlegen
räuſpernd, fuhr er fort: „War ich nicht da, der alles
ebenſo gut beſorgen konnte als dieſer — dieſer —“
Er kam nicht weiter, denn Julie blitzte ihn mit ihren
ſchwarzen Augen an und ſagte dann zornig: „Nicht weiter,
wenn ich bitten darf, denn ich dulde nun einmal nicht,
daß man einen Abweſenden verleumdet.“ ö ö
„Das fällt mir ja gar nicht ein, Julie, ich meine nur,
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Ur. 35.
Mittwoch, den 3. Mai
1882.
Der Strifling.
Nach einer wahren Begebenheit von M. Flachs.
(Fortſetzung.)
„Nun, Hedwig, kaum biſt du in H. wieder angekom-
men, und ſchon machſt du intereſſante Bekanntſchaften, oder
waren dir Schulzes nicht mehr fremd 2“ mit dieſen Worten
wurde Hedwig von Julie empfangen, als ſich die Thür
kaum hinter ihr geſchloſſen hatte.
„Ich hatte nie zuvor von ihnen gehört, noch ſie je
geſehen.“
„Wie konnteſt du denn ſo ſchnell mit ihnen bekannt
werden, um eine halbe Stunde in vertraulichem Geſpräch
auf der Straße ſtehen zu bleiben? erzähle nur, wie
kam das?“ ö
„Ich ſollte eigentlich für deine Uebertreibung, mit der
du wenige Minuten in eine halbe Stunde verwandelſt, die
Geheimnißvolle ſpielen und deine Nengierde noch mehr
reizen, du ächte Tochter von Mutter Eva! aber ich will
einmal Gnade ſtatt Recht walten laſſen und dir alles
erzählen.“ ö
Und ſie erzählte ihr den Vorfall.
„Frau Schulz hat dich eingeladen, Hedchen? na, darauf
kannſt du dir was einbilden, denn ſie verkehrt mit Nie-
mand, obgleich es ihr hier in H. nicht an freundlichem
Entgegenkommen gefehlt hat. Wir ſind ſeit vier Jahren
ſchon Nachbarn, und anfangs habe ich mir wirklich Mühe
um ſie gegeben, aber ſie blieb unnahbar. Da hielt ich es
unter meiner Würde, noch weiter um ihre Gunſt zu wer-
ben, nehme ich als einzige Tochter des Bürgermeiſters und
reichſten Kaufherrn der Stadt H. doch eine ganz andere
Stellung ein, als dieſe ſchlichte unbedeutende alte Frau,
und es war mir lieb, daß der wirklich ſehr liebenswürdige
Sohn es nicht zu verlangen ſchien, daß man ſich um die
Alte bekümmern ſollte. Seit einem Jahre, wo Herr Schulz
durch einen Zufall mit Papa näher bekannt wurde und
uns oft beſucht, ſehe ich ihn faſt täglich, und ich will die
Langeweile, die alte unangenehme Frau unterhalten zu
müſſen, recht gern entbehren und dies ohne Neid anderen
überlaſſen.“ ö
ö „Mir erſchien ſie recht angenehm,“ antwortete Hedwig,
indem ſie ihren Hut ablegte, ſich Julie gegenüberſetzte und
eine Handarbeit hervorzog, „doch kenne ich ſie nicht weiter
und möchte jetzt mit dir von einer anderen Sache reden
und mir deine Verzeihung für eine — Nothlüge — er-
bitten.“
„Was? du, die Prieſterin der Wahrheit, haſt dich zu
einer Lüge verleiten laſſen? Da muß allerdings die Ver-
ſuchung ſtark an dich herangetreten ſein.“
„Das iſt ſie auch, denn Fritz dauerte mich gar zu ſehr.
Er ſchlug deines Vaters Einladung kurz ab und ſah da-
bei ſo unglücklich aus, daß ich ihn zu verſtehen glaubte.
Auf ſeine Frage, ob du kein Wort dazu geſagt habeſt,
antwortete ich, du habeſt ihn gleichfalls eingeladen. Aller-
dings war das nicht wahr, doch ich glaubte kein großes
ſich ſo benehmen?
Unrecht durch dieſe Lüge zu begehen und mir leicht deine
Verzeihung dafür zu verſchaffen, da ich wußte, wie dringend
du ihn früher einzuladen pflegteſt.“
Es klang durchaus nicht ſcherzhaft oder freundlich, als
Julie antwortete: „Du biſt doch wirklich noch recht kin-
diſch, Hedwig,“ doch als dieſe halb betrübt, halb verwun-
dert zu ihr herüberſchaute, reichte Julie ihr die Hand und
ſagte: „Nur nicht dieſe Armenſündermiene, Kleine, du ſollſt
Abſolution haben, und du weißt ja auch, in dieſem Hauſe
iſt dein Bruder immer willkommen, ich mag ihn nun ein-
geladen haben oder nicht.“ ö
Die Stunden vergingen den beiden jungen Mädchen
ſehr ſchnell, denn an Stoff zum Plaudern fehlte es nicht;
beſonders war Hedwig ſehr beredt und erzählte mit ſo
großem Eifer von den kleinen Ereigniſſen in der Penſion,
daß ſie darüber nicht bemerkte, wie Julie nur mit halbem
Ohr darauf hörte und das Geſpräch immer wieder auf
Hedwigs neueſtes Erlebniß zu bringen wußte und ſelbſt
immer wieder von dem intereſſanten Nachbar erzählte.
Es war dies für Julie ein ſo intereſſantes Kapitel, daß
ſie noch gern weiter darin fortgefahren wäre, und es ihr
viel zu früh war, als ihr Vater und Hedwigs Bruder
eintraten und demſelben ein Ende machten. Hedwig war
erſtaunt und betrübt, als ſie gewahrte, wie ſehr ſich das
Verhältniß zwiſchen den beiden Spielgefährten geändert
hatte. Es war ihr nicht unbekannt geblieben, daß Fritz
Julie als ſeine Braut betrachtete, aber konnte eine Braut
Hedwig hatte ſich ein ſolches Verhält-
niß ſo reizend poetiſch gedacht, aber was ſie da ſah, hatte
nichts Reizendes und nichts Poetiſches.
Hedwig ſaß neben dem alten Herrn, der ſich bemühte,
ſie auf ſeine joviale Weiſe zu unterhalten. Das Braut-
paar ſchien wenig Notiz von einander zu nehmen; Julie
ſtickte ſo fleißig, als müßte die Arbeit heute noch beendet
werden, und Fritz hatte nur Sinn für ſeine Cigarre, deren
luſtige Wolken und Ringe er eifrig zu beobachten ſchien.
Wer ihn indeß beobachtet hätte, würde bald bemerkt haben,
daß er dadurch die Aufmerkſamkeit maskiren wollte, die er
eigentlich nur für Julie hatte. Endlich ſchien er des
Spieles müde zu ſein, denn er warf den Reſt der Cigarre
in die vor ihm ſtehende Aſchenſchale, und ſich nahe zu
Julie beugend, ſagte er: „Weshalb haſt du mir das an-
gethan, Julie, und haſt mit Herrn Schulz eine Schlitten-
partie arrangirt?“ ö
„Nun, weil es mir Vergnügen macht; oder denkſt du,
die Langeweile in dieſem kleinen Neſte ſei noch nicht groß
genug für mich, da du mir ſogar eine kleine Abwechslung
mißgönnſt 2“
„Ich ſollte dir etwas, das dir Freude macht, miß-
gönnen? habe ich das je bewieſen?“ und ſich verlegen
räuſpernd, fuhr er fort: „War ich nicht da, der alles
ebenſo gut beſorgen konnte als dieſer — dieſer —“
Er kam nicht weiter, denn Julie blitzte ihn mit ihren
ſchwarzen Augen an und ſagte dann zornig: „Nicht weiter,
wenn ich bitten darf, denn ich dulde nun einmal nicht,
daß man einen Abweſenden verleumdet.“ ö ö
„Das fällt mir ja gar nicht ein, Julie, ich meine nur,