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Heidelberger Familienblätter — 1882

DOI Kapitel:
No. 70 - No. 78 (1. September - 30. September)
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— 294 —

ſie an meiner Seite zum Taufſchmaus gehen und in der
Thür zurückprallen vor dem Tabaksrauch, und widerwillig
die kleinen behandſchuhten Finger in die Hand der Haus-
mutter legen, und die Augen unwillig fragend auf mich
richten: „Aber Werner, was ſoll ich hier; das iſt ja gräß-
lich!“ — Und wieder am Winterabend die kleinen Füße
auf den Faulenzer ſtrecken, und wehmüthig gähnend von
der Revue des deux Mondes aufblicken und den Arm
um mich legend bitten: „Werner, laß uns am Donnerstag
auf den Kaſinoball fahren, und dann bleibe ich ein paar
Tage bei der Hauptmann X., um die „Götterdämmerung“
zu ſehen, und wenn Rubinſteins Nera gegeben wird, holſt
du mich wieder, und dann nehme ich mir gleich ein Dutzend
franzöſiſcher Romane aus der Leihbibliothek mit,“ und —
und — ich ſah mich ſelbſt als unglückliches Zwitterweſen
verkommen, verſorgt, vergrämt, unbefriedigt von meinem
Beruf an der Seite des reizendſten Weibes, die ich heraus-
geriſſen aus ihrem Kreis; die holde Blume verwelkt, die
ich thöricht in rauhe Luft und dürres Erdreich verpflanzt.
— „Warum wollen Sie nicht Diviſionspfarrer werden?“
lockt die ſirenenhafte, ſüße Stimme wieder, wie am Ab⸗-
ſchiedsabend, — und ich ſpringe auf und rufe laut: „Weil
ich frei ſein will, frei leben und ſterben! Weil ich Ruhe
haben will und muß für mein heißes, ungeſtümes Herz, —
darum, gnädiges, liebſtes Fräulein, und weil Sie nicht
mit mir können und ich nicht mit Ihnen, darum können
wir uns die wunderbarſten Briefe ſchreiben, aber anhalten
kann ich nicht um Sie, wenn es mir auch das Herz mit
Wonne und Schmerz zermartert, und wenn ich — wirklich
wüßte, — daß ich Ihnen mehr bin, als ein guter Kamerad
oder — ein werthgehaltenes Spielzeug!“
Und ich jagte nach Hauſe zurück und ſetzte mich an den
Schreibtiſch und ſchrieb und ſchrieb Seite um Seite, und
malte alles wahrheitsgetreu, ganz wahr, — und wie ich
fertig war, da war mir eine Felſenlaſt vom. Herzen gefallen,
aber ich nahm ihr Bild aus dem Album und hing's über
meinem Tiſch auf, da wo die erſten Sonnenſtrahlen es
treffen mußten, das ſonnige Mädchengeſicht, und einen
friſchen Kranz von Erika legte ich drum, wie um das
Bild einer lieben Verſtorbenen, — mir ſelbſt zur Mahnung —
und zur Erquickung.
ö 23. September.
Ich glaube doch, es war verwegen von mir, dies Dar-
ſtellen, daß meine Augen ſie ſtündlich ſehen, und dies Be-
kränzen des Mädchens, deren friſche, blühende Lippen, ſo
oft ich auf ſie blicke, leiſe zu ſagen ſcheinen: „Ich lebe

und bin viel ſtärker als alle Todten ſind.“ — Nun möchte

ich nur eins, daß ich zu arbeiten hätte; zu arbeiten vom
Morgen bis zum Abend; und ich habe nichts zu thun bei
meinen 400 Seelen. Studiren! vortrefflich — aber über
die Zeilen legen ſich goldene Fäden von ihrem Haar und
machen ſie undeutlich und verwirren den Grundtext, und
auf der Feder balancirt eine zierliche Elfengeſtalt und
wiſpert von dem letzten Ball, auf dem ich ſporenklirrend
mit ihr tanzte, und ſie, das reizende Haupt zurückgelehnt,
mir ins Geſicht ſah und lächelnd ſagte: „Sie können's
nie verantworten, daß Sie zur Reſerve gegangen ſind.“ —
Ja, ich kann's verantworten, du liebſtes anderes Bild über
dem neuen, du mit dem Mooskranz, aus dem die Augen
meiner todten Mutter auf mich ſchauen.
Ja, Arbeit! feſte, ſtrenge Sollarbeit. Mit wahrer
Gier ſtürze ich mich auf den ärmſten Bericht, wenn nur
einer da iſt. — Predigen? Wohl: Donnerstag Abend,
Freitag und Sonnabend und dann? — Ich kann doch
nicht den Leuten Arſenik eingeben, damit ſie krank werden

und ich Beſuche zu machen habe, und ſonſtige Amtshand-

lungen entziehen ſich auch meinem Einfluß; und wenn ich
wöchentlich einmal meine Schule inſpizire, wirft mir der
Küſter ſchon einen Blick zu, als wollte er ſagen: Werft

das Scheuſal in die Wolfsſchlucht. Ich glaube, ich werde
die Jungen der Oberklaſſe nächſtens mit alten Beſenſtielen

beritten machen und ſie ſo vorläufig auf den Cavalleriedienſt

vorbereiten. — Mittlerweile reite ich ſelbſt meilenweit ins
Land hinaus, und wo ich hinkomme, wiſſen die Leute nicht,
was ſie aus mir machen ſollen. — Dabei fällt mir ein,
daß ich noch keinen einzigen meiner vier Amtsbrüder be-
ſucht habe; ich nehme es mir von Tag zu Tag vor, und
immer reite ich dann andere Wege. Ich habe das Gefühl,
als wenn ich nie unter ihnen rezipirt würde; ich komme
mir wohl ſelbſt zu wenig als Geiſtlicher vor — und ich
würde es doch ſo ſehr gern; das weiß Gott! Es wird
ja auch gelingen, hoffe ich. ö
A propos Schule: Eins freut mich. Wenn mit den

Alten hier auch wenig aufzuſtellen iſt, und ihnen ſchwer

nah zu kommen, wenigſtens für mich, mit den Kindern,
großen und kleinen, glückt's mir um ſo beſſer. Das iſt
immer ein heller Jubel, wenn wir uns begegnen, und neu-
lich gar gab's eine wahrhaft frenetiſche Freude, als ich die
Schuljugend, die auf dem Heimwege war, einholte und
endlich einen Burſchen dazu brachte, Ali zu beſteigen, und
dann ein zweiter und dritter und vierter ſich meldete, bis
der brave Rappe ausſah, als trüge er die ſämmtlichen
Haimonskinder, und Murad ſchließlich auch noch zwei Abe-
ſchützen auflud, und wir ſo fein ſäuberlich in großem Glück
unſere Straßen zogen. Vielleicht glückt's mir durch die
Kinder den Alten näher zu kommen, denen ein Paſtor, den
ſie faſt nur auf der Kanzel zu Fuß ſehen, doch ein ſchier
unheimlich Ding zu ſein ſcheint. Nebenbei habe ich meinen
lieben Hans in Verdacht, daß er, wenn er gelegentlich
ſeinen Schoppen im Krug trinkend, fürchterlich über unſere
Kriegsthaten aufſchneidet. Aber ich werde es ihm doch
einmal ſagen, daß ſich das beim Schein des Bivouakfeuers
vielleicht ganz gut ausnimmt, aber im Schatten des Kirch-

thurms weniger.
(Fortſetzung folgt.)

Eine Lanze für die Brenuneſſel.

Wenn es eine übelbeleumundete Pflanze gibt, ſo iſt es
die Brennneſſel, jene Pflanze mit den dunklen Blättern, an
die es nicht gut iſt, mit den Fingern zu rühren. Die
„Gazette Medicale d'Algerie“ unternimmt mit folgenden
Worten ihre Rehabilitirung: „Jede Hausfrau, jede Hühner-
hofbeſitzerin weiß, daß die Brennneſſel die beſte und erſte
Nahrung des Truthahnes iſt, und daß man ihn ohne dieſe
Pflanze nur ſehr ſchwer ernährt. Die Milchmeier wiſſen
genau, daß ſie die Kühe gewöhnen müſſen, gekochte Brenn-
neſſel zu freſſen, wenn ſie die Milch derſelben vermehren
und deren Qualität verbeſſern wollen. Die Brennneſſel
iſt ſozuſagen diejenige Pflanze, welche am leichteſten keimt,
die geringſte Pflege braucht und das raſcheſte Wachsthum
zeigt. Faſt keine Pflanze hat nach der großen Kälte der
nördlichen gemäßigten Zone oder nach der enormen Hitze
unſerer ſüdlichen Gegenden ſich entwickelt, wenn die Brenn-
neſſel ſchon höher als alle anderen Kräuter ihr Haupt er-
hebt, ja ſogar ſchon Samen anſetzt. Warum verwendet
alſo der Menſch, der doch ſo gierig nach grünen Gemüſen
ſucht, ſo lange ſie noch ſelten ſind, der auf die unbedeutend-
ſten Erſtlingsgräſer fahndet, dem Boden abgezwungene
Produkte, die nur den Namen und die Form, nicht aber
den Werth und Geſchmack von Gemüſen haben — nicht
zu ſeiner Ernährung auch die Brennneſſel, die doch am
erſten unter allen ſprießt? — Die Bewohner des Nordens,
welche weniger Gemüſe als wir haben, ſind von ihren Vor-
urtheilen gegen dieſe Pflanze bereits zurückgekommen und
haben ſich da bequemt, die Brennneſſel als Nahrung zu
 
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