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Hirt, Aloys Ludwig
Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten (Text) — Berlin, 1809

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https://doi.org/10.11588/diglit.1740#0035
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durch die Kunst hervorgebrachtes. Daher es ungleich schwieriger zu seyn scheint, das We-
sen und die Gränzen des Schönen in der Baukunst, als in den bildenden Künsten anzugeben.

Indessen hat das Volk, welchem das Schicksal vorbehielt, die redenden und bildenden
Künste auf den Gipfel der Vollkommenheit zu bringen, auch die Geheimnisse des architek-
tonischen Schönen enthüllt. Wir erblicken es in den Ueberresten der Griechen und Römer.
Mit glücklichem Erfolge hat man das Wesen und die Grundsätze in den redenden Künsten
erforscht, indem man sich der lichtvollen Weisungen bediente, welche das Alterthum bereits
in eine Art von System ordnete. Wir wollen hier blofs an Aristoteles, Cicero, Dionysius
von Halikarnafs, an Horaz und Quintilian erinnern.- Eine Reihe ähnlicher Kritiker hatte
das Alterthum auch in der Baukunst, wovon Vitruv der einzige ist, dessen Werk auf uns
gekommen ist. Aus diesem und aus den Monumenten müssen wir den Geist des Schönen
in der Architektur zu entwickeln und die Gesetze desselben zu ordnen uns bestreben.

Um die Aufsenlinien des architektonischen Schönen zu bestimmen, setzen wir vorerst
folgende drey Bedingungen als allgemein geltend fest: i) das architektonische Schöne kann
weder auf Unkosten der Gonstruction, noch zum Nachtheil einer zweckmäfsigen.Anlage und
Einrichtung statt finden; 2) vielmehr mufs das Wesen des Schönen aus der Gonstruction
und einer zweckmäfsigen Anordnung hervorgehen und gleichsam darauf ruhen; 3) schön ist
endlich nur das, was der sinnlichen Anschauung im Aligemeinen entspricht.

Hieraus ergiebt sich, dafs bey näherer Entwicklung die Gesetze des architektonischen
Schönen auf sechs Hauptpunkte sich zurückführen lassen: 1) auf das Verhältnifsmafs, 2) auf
das Gleichmafs, 3) auf die Wohlgereimtheit, 4) auf die Einfachheit der Formen, 5) auf das
Material und die Massen, und 6) auf die Verzierung.

§. 2. Das Verhältnifsmafs: Man kann jedes architektonische Werk als ein organisches
Ganze betrachten, das aus Haupt- Unter- und Nebentheilen besteht, welche zu einander ein
bestimmtes Gröfsenmafs haben. Bey den organischen Körpern hat die Natur die Verhält-
nisse der Theile zu einander nach individuellen Zwecken angeordnet. Bey den Bauwer-
ken ist der Anordner der Mensch selbst. Will man z. B. bey dem menschlichen Körper die
Verhältnisse der Theile und der Glieder unter einander und zum Ganzen bestimmen; so
nimmt man irgend einen Theil dieses Körpers selbst zum Pvlafsstab, als den Ellbogen, den
Fufs, die Spanne, die Querhand, die Fingerbreite, die Kopf- oder Gesichtslänge. Auf eine
ähnliche. Weise verfährt man bey den Bauwerken, indem man irgend einen Theil an dem
aufzuführenden Gebäude zum Mafsstab machet, nach welchem dann alle übrigen bestimmt
werden. Gewöhnlich nimmt man hiezu den untern Durchmesser der Säule, oder die Hälfte
desselben. Daher der in der architektonischen Sprache angenommene Ausdruck Modul
(Mafsstab). Mit einem solchen Modul werden nun die Verhältnisse aller übrigen Theile und
Glieder bestimmt; und zwar entweder dafs man den Modul, wenn darunter der ganze untere
Durchmesser der Säule begriffen ist, in sechzig, oder, wenn man darunter nur den halben
Durchmesser versteht, in dreyfsig Theile eintheilt. Dies ist die allgemein angenommene
Verfahrungsweise der Neuern; und nach den Theilen des Moduls pflegen sie die Verhältnis-
se der kleinsten Glieder zu bestimmen. Vitruv hingegen giebt nach dem Sänlenmodul nur
die Gröfsern oder Haupttheile an, und bestimmt dann die Untertheile und Glieder nach
dem Mafse eines solchen Haupttheiles .selbst. Dies Verfahren scheint bey den Alten das ge-
wöhnliche gewesen zu seyn. Jede dieser beyden Arten des Messens hat ihre Vortheile und
Nachtheile. Die erste Art — der Neuern nemlich — ist bequemer für den Architek-
ten: er bedarf bey seinen Entwürfen einer geringern Mühe bey dem Berechnen. Aber die
hiedurch entstehenden Brüche verursachen viele Mühe und Verwirrung für den Bauhandwer-
ker, welcher irgend ein Baustück hiernach ausführen soll. Die Methode der Alten dagegen

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