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_ DIE SEHNSUCHT NACH SCHÖNEREM LEBEN_55
sonst zu verstehen, daß das Ablehnen des Vorrangs regelmäßig eine
Viertelstunde lang fortgesetzt werden konnte?1)- Je länger man sich
weigert, je erbauter waren die Umstehenden. Jemand, dem der Hand-
kuß zukommt, verbirgt seine Hand, um der Ehre zu entgehen. Die
Königin von Spanien verbirgt auf diese Weise ihre Hand vor dem
jungen Erzherzog Philipp dem Schönen, dieser wartet einige Zeit, aber
als ihm die Gelegenheit günstig ist, ergreift er ganz unerwartet die
Hand und küßt sie. Und diesmal lachte der ernsthafte spanische Hof,
denn die Königin war nicht mehr darauf gefaßt gewesen2 3)-
Alle spontanen Zärtlichkeiten des Umgangs sind sorgfältig in For-
men gebracht. Es ist genau vorgeschrieben, welche Hofdamen Hand
in Hand zu gehen haben. Und nicht nur dieses, sondern auch ob die
eine die andere dazu zu ermutigen hat oder nicht. Diese Aufmunterung,
das Sichzuwinken oder Zurufen (hucher) zum Mitgehen, ist für die alte
Hofdame, die das burgundische Zeremoniell beschreibt, ein technischer
Begriff8)- Die Formalität, einen scheidenden Gast nicht gehen lassen
zu wollen, wird bis zum lästigsten Extrem durchgeführt. Die Gemahlin
Ludwigs XI. ist für einige Tage zu Gast bei Philipp von Burgund; der
König hat einen bestimmten Tag für ihre Rückkehr festgesetzt, aber
der Herzog weigert sich, sie fortzulassen, ungeachtet der flehentlichen
Bitten ihres Gefolges und wie sehr sie auch selbst vor dem Zorn ihres
Gemahls bebt4). — Goethe hat gesagt: „Es gibt kein äußeres Zeichen
der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte“; „virtue
gone to seed“ hat Emerson die Höflichkeit benannt. Man kann viel-
leicht nicht mit vollem Recht behaupten, daß dieser sittliche Grund im
15. Jahrhundert noch empfunden wurde, sicher aber der ästhetische
Wert, der zwischen der aufrichtigen Gewogenheitsbezeugung und der
dürren Umgangsform liegt.
Es versteht sich von selbst, daß diese weitschweifige Lebensaus-
schmückung vor allem an den Fürstenhöfen stattfindet, wo man sich
Zeit und Raum dafür nehmen kann. Daß sie aber auch die niederen
x) Alienor de Poitiers, p. 210; Chastellain, IV, p. 312; Juvenal des Ursins,
p. 405; La Marche, I, p. 278, Froissart, I, p. 16, 22 usw.
2) Molinet, V, p. 194, 192.
3) Alienor de Poitiers, p. 190; Deschamps, IX, p. 109.
*) Chastellain, V, p. 27—33.
 
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