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ELFTES KAPITEL
Jeglicher fromme, erbauliche Sinn ist fern, als Villon die Balladen dich-
tet, in denen „la belle heaulmiere“, einst eine berühmte Pariser Kurti-
sane, ihre früher unwiderstehlichen Reize mit dem trübseligen Verfall
ihres alten Körpers vergleicht.
„Qu’est devenu ce front poly,
Ces cheveulx blons, sourcils voultiz,
Grant entroeil, le regart joly,
Dont prenoie les plus soubtilz;
Ce beau nez droit, grant ne petiz,
Ces petites joinctes oreilles,
Menton fourchu, cler vis traictiz
Et ces beiles levres vermeilles?
Le front ride, les cheveux gris
Les sourcils cheuz (ausgefallen), les yeux estains . . x)
In einem der poetischen Bücher der heiligen Schrift der südlichen
Buddhisten hat man das Lied einer frommen alten Nonne Ambapäli
mit derselben Vergangenheit wie „la belle heaulmiere“. Auch sie ver-
gleicht ihre Schönheit von früher mit ihrem Abscheu erweckenden
Alter, hier voll dankbaren Lobes für das Verschwinden jener nichts-
würdigen Schönheit* 2). Ist aber zwischen diesem Gefühl und dem
vorigen der Abstand wohl so groß, wie er uns erscheinen möchte?
Der heftige Widerwille vor der Zersetzung des irdischen Körpers
erklärt zugleich den hohen Wert, den man dem Unverwestbleiben der
Leichen einiger Heiligen, wie z. B. der heiligen Rosa von Viterbo zu-
spricht. Es ist eine der kostbarsten Herrlichkeiten Marias, daß ihrem
Körper durch ihre Himmelfahrt die irdische Zersetzung erspart ge-
blieben ist3). Was hieraus spricht, ist im Grunde ein materialistischer
Geist, der sich vom Gedanken an den Körper nicht losmachen konnte.
Es ist derselbe Geist, der sich in der besonderen Sorgfalt, mit der bis-
weilen die Leichen behandelt wurden, offenbart. Es existierte die Ge-
wohnheit, sofort nach dem Tode die Züge des Antlitzes eines vor-
b Villon, Testament, vs. 453 ss., ed. Longnon, p. 39.
2) H. Kern, Het Lied van Ambapäli uit de Therigäthä, Versl. en Meded.
der Koninkl. Akad. van Wetenschappen te Amsterdam 5, III, p. 153, 1917.
3) Molinet, Faictz et dictz, fo. 4. fo. 42 v.
ELFTES KAPITEL
Jeglicher fromme, erbauliche Sinn ist fern, als Villon die Balladen dich-
tet, in denen „la belle heaulmiere“, einst eine berühmte Pariser Kurti-
sane, ihre früher unwiderstehlichen Reize mit dem trübseligen Verfall
ihres alten Körpers vergleicht.
„Qu’est devenu ce front poly,
Ces cheveulx blons, sourcils voultiz,
Grant entroeil, le regart joly,
Dont prenoie les plus soubtilz;
Ce beau nez droit, grant ne petiz,
Ces petites joinctes oreilles,
Menton fourchu, cler vis traictiz
Et ces beiles levres vermeilles?
Le front ride, les cheveux gris
Les sourcils cheuz (ausgefallen), les yeux estains . . x)
In einem der poetischen Bücher der heiligen Schrift der südlichen
Buddhisten hat man das Lied einer frommen alten Nonne Ambapäli
mit derselben Vergangenheit wie „la belle heaulmiere“. Auch sie ver-
gleicht ihre Schönheit von früher mit ihrem Abscheu erweckenden
Alter, hier voll dankbaren Lobes für das Verschwinden jener nichts-
würdigen Schönheit* 2). Ist aber zwischen diesem Gefühl und dem
vorigen der Abstand wohl so groß, wie er uns erscheinen möchte?
Der heftige Widerwille vor der Zersetzung des irdischen Körpers
erklärt zugleich den hohen Wert, den man dem Unverwestbleiben der
Leichen einiger Heiligen, wie z. B. der heiligen Rosa von Viterbo zu-
spricht. Es ist eine der kostbarsten Herrlichkeiten Marias, daß ihrem
Körper durch ihre Himmelfahrt die irdische Zersetzung erspart ge-
blieben ist3). Was hieraus spricht, ist im Grunde ein materialistischer
Geist, der sich vom Gedanken an den Körper nicht losmachen konnte.
Es ist derselbe Geist, der sich in der besonderen Sorgfalt, mit der bis-
weilen die Leichen behandelt wurden, offenbart. Es existierte die Ge-
wohnheit, sofort nach dem Tode die Züge des Antlitzes eines vor-
b Villon, Testament, vs. 453 ss., ed. Longnon, p. 39.
2) H. Kern, Het Lied van Ambapäli uit de Therigäthä, Versl. en Meded.
der Koninkl. Akad. van Wetenschappen te Amsterdam 5, III, p. 153, 1917.
3) Molinet, Faictz et dictz, fo. 4. fo. 42 v.