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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 51.1940

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Michel, Wilhelm: Menschen und Gegenstände
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https://doi.org/10.11588/diglit.10972#0157

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INN EN-DEKORATION

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»SITZPLATZ IM KLEINEN LESEZIMMER« BEZÜGE: SCHWARZGRUND1GER GELBGRQN-ROT GEMUSTERTER GOBELIN

MENSCHEN UND GEGENSTÄNDE

Täglich, wenn ich in meiner Stadt durch jene
Wohnstraßen gehe, die in den ersten Jahrzehnten
des vorigen Jahrhunderts, also zwischen 1820 und
1840 erbaut worden sind, erstaunt und erquickt mich
die Wahrnehmung, wie zeitüberdauernd diese schön
und schlicht geformten Wohnhäuser von den längst
vergessenen Architekten gefaßt worden sind. Sie sind
heute noch so gut wie vor hundert Jahren, ihre Kon-
kurrenzfähigkeit mit der baulichen Umgebung hat
sich immer klarer herausgestellt. Sie haben mir oft
den Gedanken eingegeben, daß das Vergängliche viel
weniger eine Eigenschaft der Dinge als vielmehr des
verschrobenen Menschen ist. Wenn der sich kopfüber
in den dahinhuschenden Augenblick stürzt, dann muß
ihm freilich die nächste Stunde das eben Gestaltete
schon wieder in den Kehricht werfen. Man sieht es an
neueren Wohnvierteln in der Nähe. Viele Jahrzehnte
nach jenen stillen, gefaßten Wohnbauten sind andre
Wohnhäuser entstanden, Gebilde einer aufgeblasenen,
gehetzten Zeit, und an ihnen ist alles so falsch, so
augenblicklich und vergangen, vor allem auch so ge-
meinschaftslos, so verbohrt in den privaten Einfall,
daß sie dem Auge ein Schmerz sind. Zwar die Gips-

reliefs an den Portalen konnte man inzwischen her-
unterschlagen, die elenden Buntglasfenster der Trep-
penhäuser konnte man wegnehmen; aber nach wie
vor sprudelt den Kästen die angeborene Torheit aus
allen Fensterlöchern.

Bleibendes kann der Mensch nur hervorbringen,
wenn er sich auf Bleibendes stützt. Und dieses Blei-
bende ist keineswegs etwa das Gestrige oder das bloß
Gewohnte. Es ist vor allem ein verständiger Sinn und
ein ruhiges Herz. Was veranlaßte den Architekten,
dem Zeitungsgebäude hier nebenan diese lächerlichen
Glasgürtel anzulegen, das Treppenhäuschen in einen
Turm zu stecken, der so tut, als wäre er von hastigen
Aufzügen durchsummt, während das alles schon
durch die winzigen Dimensionen seine Gezwungen-
heit und Überflüssigkeit bekundet? Es war eben Zeit-
ornament, dieses sachliche Getue, diese sarkastischen
Fensterlöcher, die wie mit Blechformen aus Teig
herausgestochen sind; und heute, knapp ein Jahr-
zehnt später, mutet das an wie Damenhüte von vor-
gestern, auf eine töricht-verlegene Weise entwertet.
Da wurde »mit der Zeit gegangen«, aber auf eine sub-
alterne Art, die bloß den billigen Klingklang des
 
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