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Rudolf Gdby Die Stiftskirchen zu Wilhering und Engelszell
bogen der Seitenkapellen verdrängten die Tiefenlinie des Gesimses und das über den Ar-
kadenbogen weitergeführte Gebälk, frei von jedweder tragenden Funktion, zieht sich als
reines Dekorationsglied in lebhaft bewegter Kurve durch den Raum. In der Gewölbeanlage
ist bereits die im XVII. und in der ersten Hälfte des XVIII. Jhs. übliche Gliederung des
Langhauses durch Gurten verschwunden und
bemerkenswert früh (1735/38!!!) ist das Gewölbe
als einzige große Fläche behandelt, welche ganz
der Illusionskunst des Malers überlassen ist.
Diese Auflösung der tektonischen Gebundenheit,
man könnte von einem Schwingen und Schweben
des ganzen Raumes sprechen, setzt sich in den
willkürlich g-eformten Fenstern, in dem Aufbau
des Musikchores und seiner Orgel, an Kanzel,
Chororgel und allen Altären fort und findet
seinen Höhepunkt und Ausklang zugleich in der
Stuckdekoration und in den Freskomalereien der
Decke. Der auf dem Hauptgesimse auflagernde,
die Gewölbeanfänger tragende Architrav wird
durch mächtige, auf großen 'Wolkenballen
schwebende Engelsgruppen, welche Heiligen-
medaillons halten, maskiert. Angedeutete Konsolen und darüber Karnissen täuschen an
diesen malerischen, gleichsam aufschwebenden Gruppen den Eindruck vor, als würden sie
das mächtige Gewölbe tragen. Auch die Gewölbebogen des Langhauses sind ihrer
tektonischen Aufgabe möglichst entkleidet. Im Scheitel schweben kolossale Engelsgruppen
und die ornamentale Stuckdekoration tut das Übrige, um diesen mächtigen Baugliedern
mehr den Anschein eines Vorhanges als einer tragenden Mauer zu geben. Dieser
malerische, geradezu an Theaterdekorationen erinnernde Grundgedanke der Decken-
dekoration setzt sich in den ungezählten aufschwebenden Stuckenglein der Decke, in den
stukkierten Wolkenballen, welche sich in einer auf optische Täuschung berechneten Weise
mit den gemalten Wolken verbinden, und schließlich in den Gemälden Francesco Messentas
und Bartolome Altomontes bis zur höchsten und letzten Konsequenz durch.
Wer der Schöpfer dieser Dekorationsidee ist, läßt sich ohne urkundliche Belege nicht
mit absoluter Sicherheit feststellen. Die Stiftskirche in Wilhering war am 6. Mai 1733
niedergebrannt und wurde, wie Gurlitt28) berichtet, durch Joachim Carlone auf dem alten
Grundriß neu aufgebaut. Die Unterhandlungen wegen des Neubaues der Stiftskirche scheinen
sofort nach der Brandkatastrophe begonnen zu haben, denn bereits 1733 liefert der Linzer
Baumeister Johann Haslinger, der den Bau des Klosters bis zu seinem Tode am 27. Mai 1741
leitete, mehrere Pläne für den Turm29) und auch der Architekt und Bildhauer Josef Mathias
Götz aus St. Nicola nächst Passau30) hatte für Abt Bonus Bömerl (1730—34) mehrere Pläne
für den Klosterneubau, unter anderen Pläne für den Turm samt Fassade, für Orgel und
Orgelpositiv, verfertigt und hiefür 200 fl. erhalten. Der Baubeginn ist zwischen 1734 und
28) Cornelius Gurlitt, „Geschichte des Barockstils und 30) Xenia Bernardina a. a. O. S. 225 und Dr. Rudolf
des Rokoko in Deutschland“, Stuttgart 1889, S. 261. Guby, „Passauer Bildhauer des XVIII. Jhs.“ in der Nieder-
29) Xenia Bernardina a. a. O. S. 224. bayr. Monatsschrift. Passau, Jg. 1917/19 und Sonderausgabe.
Rudolf Gdby Die Stiftskirchen zu Wilhering und Engelszell
bogen der Seitenkapellen verdrängten die Tiefenlinie des Gesimses und das über den Ar-
kadenbogen weitergeführte Gebälk, frei von jedweder tragenden Funktion, zieht sich als
reines Dekorationsglied in lebhaft bewegter Kurve durch den Raum. In der Gewölbeanlage
ist bereits die im XVII. und in der ersten Hälfte des XVIII. Jhs. übliche Gliederung des
Langhauses durch Gurten verschwunden und
bemerkenswert früh (1735/38!!!) ist das Gewölbe
als einzige große Fläche behandelt, welche ganz
der Illusionskunst des Malers überlassen ist.
Diese Auflösung der tektonischen Gebundenheit,
man könnte von einem Schwingen und Schweben
des ganzen Raumes sprechen, setzt sich in den
willkürlich g-eformten Fenstern, in dem Aufbau
des Musikchores und seiner Orgel, an Kanzel,
Chororgel und allen Altären fort und findet
seinen Höhepunkt und Ausklang zugleich in der
Stuckdekoration und in den Freskomalereien der
Decke. Der auf dem Hauptgesimse auflagernde,
die Gewölbeanfänger tragende Architrav wird
durch mächtige, auf großen 'Wolkenballen
schwebende Engelsgruppen, welche Heiligen-
medaillons halten, maskiert. Angedeutete Konsolen und darüber Karnissen täuschen an
diesen malerischen, gleichsam aufschwebenden Gruppen den Eindruck vor, als würden sie
das mächtige Gewölbe tragen. Auch die Gewölbebogen des Langhauses sind ihrer
tektonischen Aufgabe möglichst entkleidet. Im Scheitel schweben kolossale Engelsgruppen
und die ornamentale Stuckdekoration tut das Übrige, um diesen mächtigen Baugliedern
mehr den Anschein eines Vorhanges als einer tragenden Mauer zu geben. Dieser
malerische, geradezu an Theaterdekorationen erinnernde Grundgedanke der Decken-
dekoration setzt sich in den ungezählten aufschwebenden Stuckenglein der Decke, in den
stukkierten Wolkenballen, welche sich in einer auf optische Täuschung berechneten Weise
mit den gemalten Wolken verbinden, und schließlich in den Gemälden Francesco Messentas
und Bartolome Altomontes bis zur höchsten und letzten Konsequenz durch.
Wer der Schöpfer dieser Dekorationsidee ist, läßt sich ohne urkundliche Belege nicht
mit absoluter Sicherheit feststellen. Die Stiftskirche in Wilhering war am 6. Mai 1733
niedergebrannt und wurde, wie Gurlitt28) berichtet, durch Joachim Carlone auf dem alten
Grundriß neu aufgebaut. Die Unterhandlungen wegen des Neubaues der Stiftskirche scheinen
sofort nach der Brandkatastrophe begonnen zu haben, denn bereits 1733 liefert der Linzer
Baumeister Johann Haslinger, der den Bau des Klosters bis zu seinem Tode am 27. Mai 1741
leitete, mehrere Pläne für den Turm29) und auch der Architekt und Bildhauer Josef Mathias
Götz aus St. Nicola nächst Passau30) hatte für Abt Bonus Bömerl (1730—34) mehrere Pläne
für den Klosterneubau, unter anderen Pläne für den Turm samt Fassade, für Orgel und
Orgelpositiv, verfertigt und hiefür 200 fl. erhalten. Der Baubeginn ist zwischen 1734 und
28) Cornelius Gurlitt, „Geschichte des Barockstils und 30) Xenia Bernardina a. a. O. S. 225 und Dr. Rudolf
des Rokoko in Deutschland“, Stuttgart 1889, S. 261. Guby, „Passauer Bildhauer des XVIII. Jhs.“ in der Nieder-
29) Xenia Bernardina a. a. O. S. 224. bayr. Monatsschrift. Passau, Jg. 1917/19 und Sonderausgabe.