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Kunsthistorische Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses <Wien> [Hrsg.]
Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (ab 1919 Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien) — 15.1894

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Abhandlungen
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Schneider, Robert von: Die Erzstatue vom Helenenberge
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https://doi.org/10.11588/diglit.5906#0133
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n6

Robert von Schneider.

zwei Statuen. Dem gestreckten Standbeine des Doryphoros entspricht der gestreckte, dem gebogenen
Spielbeine der gebogene Arm. An unserem Jünglinge dagegen ist dem ruhigen Standbeine der thätige
Arm, dem bewegten Spielbeine der unthätig gesenkte entgegengesetzt. Beim Doryphoros contrastiren
somit die Körperhälften; bei der Wiener Statue dagegen bilden die Gliedmassen den Chiasmos, das
heisst, sie stimmen kreuzweise miteinander überein. Als unmittelbare Folge davon ergibt sich für
sie den ruhigen, wenig geschwungenen Contouren des Doryphoros gegenüber ein reicheres, leb-

hafteres Linienspiel.

Trotz der vermehr-
ten Mittel sehe ich an un-
serer Statue nichts, was
über die künstlerischen
Absichten der polykleti-
schen Schule hinaus-
ginge. Wie im Diadu-
menos und Doryphoros
sollte auch hier der Kör-
per eines Jünglings in
ebenmässiger Durchbil-
dung seiner Formen und
in rhythmisch abgewo-
gener Bewegung dar-
gestellt werden. Der gei-
stige Ausdruck und die
Action der Figur waren
dem Künstler weniger
wichtig. Die Contouren
der Statue sind in grossen
kühnen Curven gezogen
und in prächtigem Li-
nienflusse bietet sich die
Gestalt von jedem Augen-
punkte gleich günstig dar.
Nirgends dringen indivi-
duelle Züge in die nor-
male Schönheit ihrer Er-
scheinung, aber auch
nirgends verräth sich das

Bestreben, die normale
Bildung bis in das Ideale
zu steigern. Charakteri-
stisch hiefür ist der ma-
gere, keineswegs edle
Fuss der Statue mit
niedrigem Riste und brei-
ten Nägeln, der einem in
Olympia ausgegrabenen
Fusse einer bronzenen
Siegerstatue1 auffallend
gleicht. Der Doryphoros
und der Diadumenos sind
den uns erhaltenen Mar-
morcopien nach2 von
breitem, gedrungenem,
wuchtigem Körperbau-
Unsere Figur dagegen ist
um Vieles schlanker und
schmächtiger. Schon hie-
durch scheint sie grösser
als jene Athleten, ob-
gleich sie thatsächlich
um Einiges kleiner ist.
Gleichwohl stimmen ihre
Masse zum Theil mit
denen des polykletischen
Kanons überein. Wie
beim Doryphoros ist ihre
Brustweite (o'46) ein
Viertel und ihre Gesichts-

länge (0-182) ein Zehntel der ganzen Gestalt.3 Die Beine dagegen sind nicht unbedeutend länger;
denn-der Oberschenkel (0-57) ist nur um Weniges kürzer als der Rumpf (0-58). Hierin nähert sich die
Figur den Proportionen des Lysipp.

Ganz im Einklänge mit dem Stile der Statue ist die Bildung ihres Kopfes. Auch dessen Grund-
form ist polykletisch: dieselbe wenig ansteigende, fast gerade verlaufende Scheitellinie des Schädels,
dasselbe breite und kurze Gesicht mit der glatten Stirne, der im Winkel ansetzenden Nase, dem kräf-
tigen vollen Kinne, die gleiche Zeichnung des Mundes; nur die Unterlippe ist weniger vorhängend als

1 Olympia, Tafclband IV: Die Bronzen, Taf. 3.

2 Die Marmorrepliken mögen die Formen des Originales übertrieben wiedergeben. So zeigt die schöne Terracot»-
Replik aus Smyrna bei Mr. W. R. Paton (Journal of hellenic studies, Bd. VI, Taf. LXI) eine weniger massige, feinere Mode''
lirung der Schultern.

3 Michaelis im Journal of hellenic studies, Bd. IV (i883), S. 345, 347 f.
 
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