Die Jugendwerke des Bartolommeo Suardi, genannt Bramantino.
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groß gefaltet, wie sie uns auf den meisten anderen Werken Bramantinos auffielen. Die nächste Analogie
bieten in dieser Beziehung die Arazzi. Wäre man auch versucht, bei so mancher Beziehung die zeit-
liche Entstehung der uns hier beschäftigenden Fresken mit derjenigen der Lünetten des kleinen Kloster-
hofes eng zusammenzurücken, so dürfte doch dem genauen Beobachter nicht entgehen, daß sich des
Meisters Kunst, in den früheren Malereien noch gleichsam im Keime, hier zu freier Kraft entfaltet
hat. Die Frage, inwieweit wir die Dominikuslegende als von Bramantino eigenhändig ausgeführt an-
sehen dürfen, ist bei dem heutigen Zustande der Erhaltung kaum mehr zu entscheiden. Immerhin
erscheint die Annahme, es hätten Schülerhände an diesem einst so umfangreichen Werke mitgearbeitet,
durchaus zulässig. Drängen uns doch die stilistischen Merkmale unserer Fresken zu der Vorstellung,
Fig. 38. Der heil. Martin mit dem Bettler.
Mailand, Brera.
daß der Künstler in denselben Jahren, 1500—1503, als er die Kartons zu den Arazzi zeichnete, auch
in S. Maria delle Grazie, wo er schon Ende der Neunzigerjahre des XV. Jahrhunderts Proben seiner
Kunst geliefert hatte, diesen neuen umfangreichen Zyklus schuf! Bei so überreicher Beschäftigung
konnte er nicht jeden Pinselstrich mit eigener Hand führen.
Außer der Dominikuslegende gibt es noch ein Gemälde in dem großen Klosterhofe, bei dessen
Anblick wir sogleich den Namen Bramantino aussprechen. Es ist ein arg zerstörtes farbiges Fresko
an der Ostwand, an derselben, wo sich Montorfanos Geißelung Christi befindet. Man möchte versucht
sein zu glauben, es sei dem Bramantino übertragen worden, die von älteren Künstlern begonnene
Folge von Passionsdarstellungen, von deren Vorhandensein uns nur mehr traurige Reste Zeugnis
geben, zu ergänzen. Oder hätte Bramantino gerade die Arbeit begonnen, indem er den Anfang der
Leidensgeschichte, das Gebet unseres Herrn am Ölberge und die Gefangennahme, darstellte, und
Donato da Montorfano hatte mit seiner Geißelung Christi und vielen anderen ganz oder zum
größten Teile zerstörten Szenen die Fortsetzung dazu gegeben? Diese Frage ist solange nicht
sicher zu beantworten, bis nicht die künstlerische Entwicklung Donato da Montorfanos fixiert ist.
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groß gefaltet, wie sie uns auf den meisten anderen Werken Bramantinos auffielen. Die nächste Analogie
bieten in dieser Beziehung die Arazzi. Wäre man auch versucht, bei so mancher Beziehung die zeit-
liche Entstehung der uns hier beschäftigenden Fresken mit derjenigen der Lünetten des kleinen Kloster-
hofes eng zusammenzurücken, so dürfte doch dem genauen Beobachter nicht entgehen, daß sich des
Meisters Kunst, in den früheren Malereien noch gleichsam im Keime, hier zu freier Kraft entfaltet
hat. Die Frage, inwieweit wir die Dominikuslegende als von Bramantino eigenhändig ausgeführt an-
sehen dürfen, ist bei dem heutigen Zustande der Erhaltung kaum mehr zu entscheiden. Immerhin
erscheint die Annahme, es hätten Schülerhände an diesem einst so umfangreichen Werke mitgearbeitet,
durchaus zulässig. Drängen uns doch die stilistischen Merkmale unserer Fresken zu der Vorstellung,
Fig. 38. Der heil. Martin mit dem Bettler.
Mailand, Brera.
daß der Künstler in denselben Jahren, 1500—1503, als er die Kartons zu den Arazzi zeichnete, auch
in S. Maria delle Grazie, wo er schon Ende der Neunzigerjahre des XV. Jahrhunderts Proben seiner
Kunst geliefert hatte, diesen neuen umfangreichen Zyklus schuf! Bei so überreicher Beschäftigung
konnte er nicht jeden Pinselstrich mit eigener Hand führen.
Außer der Dominikuslegende gibt es noch ein Gemälde in dem großen Klosterhofe, bei dessen
Anblick wir sogleich den Namen Bramantino aussprechen. Es ist ein arg zerstörtes farbiges Fresko
an der Ostwand, an derselben, wo sich Montorfanos Geißelung Christi befindet. Man möchte versucht
sein zu glauben, es sei dem Bramantino übertragen worden, die von älteren Künstlern begonnene
Folge von Passionsdarstellungen, von deren Vorhandensein uns nur mehr traurige Reste Zeugnis
geben, zu ergänzen. Oder hätte Bramantino gerade die Arbeit begonnen, indem er den Anfang der
Leidensgeschichte, das Gebet unseres Herrn am Ölberge und die Gefangennahme, darstellte, und
Donato da Montorfano hatte mit seiner Geißelung Christi und vielen anderen ganz oder zum
größten Teile zerstörten Szenen die Fortsetzung dazu gegeben? Diese Frage ist solange nicht
sicher zu beantworten, bis nicht die künstlerische Entwicklung Donato da Montorfanos fixiert ist.