Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stengel, Zum griechischen Opferritual.

123

Erwartung des Opfers. Aber wenn v. Fritze fortfährt (S. 62): »wie der Stier in
kraftvollem Widerstreben seine Stimme ertönen läßt, so hier der verwundete Kämpfer«,
so hat er die Stelle nicht genau angesehen:
Οπποδάμαντα ο επειτα καθ’ ίππων άΐςαντα
πρόσθεν εθεν φεύγοντα μετα'φρενον οΰτασε δουρί.
αύτάρ δ θυμόν άισθε καί ήρυγεν . . .
Es ist wirklich nichts anderes als »der Angstschrei in Todesnot«. Daß man in
homerischer Zeit durch lautes Rufen den Gott auf das Opfer aufmerksam machen
und herbeilocken wollte, ist unbestreitbar (Herrn. XXXVIII, 43), daß das Gebrüll
des Tieres demselben Zwecke diente, kann ich nicht beweisen, aber nahe scheint
mir der Gedanke zu liegen, für das Wesentliche hielt und halte ich jedoch, daß
diese Art des Schlachtens die ungefährlichste war, und daher gerade in alter Zeit,
wo die Werkzeuge noch mangelhafter waren, gewiß vielfach geübt. Der Dichter
der Ilias scheint noch von einem Kult, wo dies Verfahren sich erhalten hatte, zu
wissen, und deshalb ist die Stelle wichtig. Für die Richtigkeit der Erklärung aber
spricht Platon Kritias 120, und »daß das Opfer auf die fabelhafte Insel Atlantis ver-
legt wird und neuntausend Jahre vor Solon geübt worden sein soll, verleiht der
Stelle um so größeren Wert: der Erzähler mußte das Älteste aufsuchen, wovon sich
eine Kunde erhalten hatte« (Arch. Anz. XVII, 166, was auch weiter zu vergleichen).
— Man mag dies also immerhin eine Form des αιρεσθαι nennen, tatsächlich wurde
das sonst geübte αύερύειν oder άνω τρέπειν oder αιρεσθαι durch das Emporziehen an
Bäumen oder Säulen unnötig gemacht, aber ein großer Unterschied bleibt: sonst
geschah dies am toten Tier, ohne daß man es so hoch hob, daß es den Boden
nicht mehr berührte.
Es wird also dabei bleiben müssen: der Gegensatz zu καταστρέφειν ist dva-
στρέφειν (Schol. Apoll. Rhod. I, 587), wofür man, wenn es sich um Rinder handelt,
auch αιρεσθαι sagt; καταστρέφειν heißt den Kopf nach unten drehen, άναστρέφειν und
alle Synonyma ihn nach oben ziehen. Auf die Lage des Tierkörpers während der
Opferung bezieht sich weder der eine Ausdruck noch der andere. Die alte Opfer-
sitte aber blieb, soviel wir wissen, nirgends bestehn, weder im Kult von Eleusis,
noch »in dem von Platon erwähnten Poseidonheiligtum« (S. 66), noch sonstwo, nur
in Ilion übte man sie weiter, und als die Münzen geprägt wurden, aus denen wir
sie kennen gelernt haben, war der dortige Brauch seit vielen Jahrhunderten ein Unikum.
Ich habe widersprechen müssen und hoffe widerlegt zu haben, möchte aber
gerade darum nicht verfehlen, daran zu erinnern, daß es v. Fritze ist, dem wir die
Publikation der ilischen Münzen verdanken, die die Diskussion dieser Fragen erst
hervorgerufen hat, und wenn meine Ausführungen zu ihrer Klärung beigetragen
haben, so hat seine Arbeit dazu die Anregung gegeben.

Berlin.

Paul Stengel.
 
Annotationen